Der russische Pilger

Orthodoxe Christus-Ikone

Der dieser Nacherzählung zurgundeliegende Originalbericht wurde vom Abt des St.-Michael Klosters zu Kazan/Russland bei einem Mönch auf dem Berg Athos gefunden und dort abgeschreiben. Diese Kopie wurde zuerst handschriftlich weiter verbreitet und schließlich in Kazan ca. 1883 in Druck gegeben. Auf deutsch erschienen als: Aufrichtige Erzählungen eines russischen Pilgers. Hrg. von E. Jungclaussen. Herder 1974, Freiburg i.Br.

Zusammenfassende Nacherzählung eines Berichtes, den ein unbekannter Pilger im 19. Jahrhundert in Russland hinterließ

Ein unbekannter Pilger berichtet:

Ich bin ein heimatloser Pilger, von niedrigstem gesellschaftlichem Stand, und pilgere von Ort zu Ort. Auf dem Rücken trage ich einen Beutel mit trockenem Brot und auf der Brust einen Beutel mit der Bibel und einem Buch über das Gebet. Dies ist mein ganzer Besitz.

Vorgeschichte

Ich wurde in einem Dorf im Gebiet Oriol als zweites Kind geboren. Mein Bruder war acht Jahre älter. Als ich zwei war, starben unsere Eltern und unser Großvater nahm uns zu sich. Mein Bruder begann bald, sich herumzutreiben und gewöhnte sich das Trinken an. Als ich sieben war und einmal mit ihm auf dem Ofen lag, stieß er mich herunter und ich verletzte mir den linken Arm. Der Arm verdorrte danach und seitdem kann ich ihn nicht mehr bewegen.

Da ich nun für körperliche Arbeiten unbrauchbar geworden war, brachte mir Großvater das Lesen bei, und zwar aus der Bibel, da wir kein anderes Buch hatten. Als ich 17 war, starb Großmutter. Großvater glaubte, wir bräuchten eine Frau zur Haushaltsführung, und deshalb verheiratete er mich. Das Mädchen war 20 Jahre alt. Ein Jahr später jedoch starb Großvater. Mein Bruder war auf Abwege geraten, und deshalb hatte uns Großvater sein Haus und sein ganzes Erbe vermacht. Mein Bruder wurde sehr neidisch; eines Nachts brach er bei uns ein, stahl das geerbte Geld und zündete das Haus an. Mit Mühe und Not konnten wir damals unser Leben retten.

Mit geliehenem Geld gelang es uns danach, ein kleines Hüttchen zu bauen. Meine Frau ernährte uns beide durch Spinnen, Nähen und Stickarbeiten. Ich las ihr bei der Arbeit aus der Bibel vor, denn aufgrund meiner Verletzung konnte ich keine Arbeit finden. Nachdem so zwei Jahre vergingen, starb meine Frau plötzlich an Fieber und ich blieb völlig allein zurück. Alles in der Hütte erinnerte mich an sie, und ich hatte eine solche Sehnsucht nach ihr, dass ich es nicht mehr in der leeren Hütte aushalten konnte. Ich verkaufte die Hütte, verschenkte das Geld den Armen, nahm meine Bibel und zog als Pilger von einem Ort zum anderen.

Die Suche

Als ich nach einiger Zeit der Wanderschaft in eine Kirche kam, wurde dort während der Messe der Satz vorgelesen: „Betet ohne Unterlass.“ Dies machte mich stutzig und ich begann darüber nachzudenken. Wie kann man denn ständig beten, man muss doch auch andere Dinge tun, um sein Leben zu erhalten? Ich las die Stelle noch einmal in der Bibel nach, konnte sie mir aber nicht erklären.

Zuerst dachte ich, ich würde die Erklärung wohl noch in einer guten Predigt hören. Ich besuchte deshalb viele Gottesdienste, in denen über das Gebet gepredigt wurde. Dort wurde jedoch nie gesagt, wie man ohne Unterlass beten könne. Mein Verlangen, das zu verstehen, wurde immer größer. Schließlich beschloss ich, mit Gottes Hilfe einen erfahrenen Menschen zu suchen, der es mir erklären könne.

Auf meiner Pilgerwanderschaft fragte ich nun gezielt die Leute, ob es nicht irgendwo einen geistigen Lehrer oder frommen erfahrenen Führer gäbe. Dadurch lernte ich einige ehrenwerte und gelehrte Menschen kennen, allerdings konnte mir keiner meine Frage zufriedenstellend beantworten.

Als ich bereits ein Jahr auf Wanderschaft war, holte mich auf der Landstraße ein altes Männlein ein und wir kamen ins Gespräch. Der Alte erzählte mir, dass 10 km abseits der Landstraße eine Klostereinsiedelei mit einem Gasthof sei, in dem man Pilger kostenlos bewirte. Seine Einladung dorthin schlug ich jedoch ab mit den Worten: „Ich habe genug Proviant dabei. Meine Ruhe hängt nicht von einer Herberge ab, sondern von einer spirituellen Belehrung.“ Das interessierte den Alten. Schließlich erzählte ich ihm meine Geschichte. Er bekreuzigte sich und antwortete:

„Lieber Bruder, danke Gott, dass du dieses unüberwindliche Verlangen nach der Erkenntnis des unablässigen Gebets hast. Erkenne in deiner langen Suche das Wirken Gottes. Er wollte dir zeigen, dass man weder durch Weisheit dieser Welt noch durch äußeren Wissensdurst das unablässige Gebet erlangen kann. Schulmäßiges Wissen hilft hier nicht weiter.“ Auf diese Art begann er mich langsam zu unterweisen. Ich merkte bald, dass der Alte ein Starez war, der aus innerer Erfahrung genau wusste, was das unablässige Gebet war.

Während des Gesprächs waren wir, ohne dass ich es recht bemerkt hatte, bis zu der Klostereinsiedelei gekommen, wo er zu wohnen schien. Auf meine innige Bitte, mich in das unablässige Gebet einzuweisen, lud er mich voller Liebe zu sich ein. Wir betraten seine Klosterzelle und er erklärte mir folgendes:

„Das unablässige innere Jesusgebet ist das ununterbrochene Anrufen des göttlichen Namens Jesu, wobei man sich seine ständige Anwesenheit vorstellt und ihn, bei jeder Handlung, überall, zu jeder Zeit, sogar während des Schlafs um sein Erbarmen bittet.“ Er erklärte mir, dass das Erlernen dieses Gebets vor allem eine Gewöhnungssache sei, und wenn man sich einmal daran gewöhnt habe, würde es einem eine außerordentliche Freude geben. Man hätte dann den Wunsch, es ständig zu verrichten, und das würde sich wie von selbst tun. Konkrete Anweisungen las er mir aus einem Buch vor, das den seltsamen Titel trug: Philokalia, oder die Liebe zur geistlichen Schönheit derer, die die Wachsamkeit des Geistes üben. Dort hieß es:

Setze dich in der Stille und Einsamkeit hin, schließe die Augen und lasse den Atem ganz leicht fließen. Führe dann deine Aufmerksamkeit aus dem Kopf ins Herz, so dass dein Vorstellungsvermögen, Denken und Fühlen vom Herz ausgehen. Im Rhythmus des Atems sprich in Gedanken — oder auch leise die Lippen bewegend — folgendes: »Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner.« Vertreibe alle fremden Gedanken, sei nur still und habe Geduld und übe dieses Gebet sehr häufig.

Er erklärte es mir dann in seinen eigenen Worten wieder und wieder und beantwortete alle meine Zweifel. Voller Begeisterung hörte ich zu und verschlang alles in meinem Gedächtnis. So verbrachten wir die ganze Nacht. Am Morgen, ohne geschlafen zu haben, gingen wir direkt zur Frühmesse in die Klosterkirche. Nach der Messe sagte mir der Starez liebevoll, ich solle regelmäßig zu ihm kommen, solange ich das unablässige Gebet lerne. Dann verließ er mich.

Als ich allein in der Kirche zurückblieb, fühlte ich riesigen Eifer in mir aufkommen. Doch dann kamen mir Sorgen zur praktischen Ausführung: Wie sollte ich denn hier überleben? In diesem Gasthof würde man mich höchstens drei Tage übernachten lassen. In der Nähe hatte ich kein Dorf gesehen, wo ich vielleicht Unterkunft und Lebensunterhalt hätte finden können. Ich flehte zu Gott um Beistand. Schließlich kam jemand und ich erfuhr, dass es in einiger Entfernung doch ein Dorf gab. Sofort wanderte ich dorthin. Zu meinem Glück schenkte mir Gott eine bequeme Anstellung bei einem Bauern: Ich sollte den ganzen Sommer seinen Gemüseacker bewachen und dazu in einer Schutzhütte auf dem Acker wohnen. Gott sei Dank! Ich hatte einen ruhigen Fleck gefunden.

Die Übung des Gebets beginnt

Etwa eine Woche versuchte ich, das innere Gebet so zu üben, wie ich es von dem Starez gehört hatte. Anfangs schien es zu gehen. Doch bald machten sich Schwere, Trägheit, Langeweile und Schläfrigkeit in mir breit. Viele Gedanken stürmten auf mich ein. Deprimiert ging ich zum Starez und berichtete ehrlich, wie es mir erging. Er antwortete mir liebevoll: „Bruder, dies ist der Kampf der Finsternis gegen dich. Aber auch die Finsternis handelt nach Gottes Willen, vergiss das nie. Wahrscheinlich musst du wohl noch etwas Demut erlangen. Darum ist es auch noch zu früh, mit Übereifer den höchsten Zugang zum Herzen zu suchen.“ Dann las er mir aus der Philokalia eine passende Anweisung vor:

Wenn du nach einigem Bemühen nicht in das Herzensland Eingang findest, dann bediene dich deiner Fähigkeit, Worte auszusprechen. Vertreibe fremde Gedanken und spreche unaufhörlich: »Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner«. Und wenn es sein muss, zwinge dich dazu. Die Erfahrung hat gelehrt, dass du so den Zugang zum Herzen erlangst.

Der Starez empfahl mir also, das Gebet erst einmal mündlich zu wiederholen. Zusätzlich gab er mir einen Rosenkranz und wies mich an, das Gebet täglich 3000-mal zu wiederholen, egal ob ich stehe, sitze, gehe oder liege.

Mit neuer Hoffnung kehrte ich zu meinem Acker zurück. In den ersten Tagen empfand ich die Übung trotzdem als schwierig. Sie gelang mir nur mit etwas innerem Zwang. In den folgenden Tagen sprach sich das Gebet aber zunehmend leichter und bequemer. Bald spürte ich eine Art Verlangen, das Gebet immer wieder zu wiederholen. Nach einer Woche besuchte ich den Starez wieder und berichtete ihm alles. Er ermutigte mich weiter und wies mich an, die Anzahl auf 6000 zu erhöhen.

Die ganze folgende Woche achtete ich auf meinem einsamen Acker nur darauf, die Anweisung des Starez genau einzuhalten, egal, welche Gedanken auf mich einstürmten. Ich gewöhnte mich dabei mehr und mehr an das Gebet. Wenn ich mal einen Moment damit aufhörte, hatte ich bald das Gefühl, als würde mir etwas fehlen oder als hätte ich etwas verloren. Sofort fing ich dann wieder zu beten an und mir wurde wieder ganz wohl. Als ich nach zehn Tagen noch nicht bei meinem Starez gewesen war, kam er selbst zu mir. Er hörte sich meinen Bericht erfreut an und forderte mich auf, ab jetzt 12000-mal täglich das Gebet zu verrichten. Dabei sollte ich weiterhin in der Einsamkeit bleiben und möglichst früh aufstehen und spät schlafen gehen.

Ich befolgte, was er es gesagt hatte. Am ersten Tag war es mir allerdings fast unmöglich, die 12000 Male zu erreichen. Ich war damit bis ganz spät abends beschäftigt. Am nächsten Tag ging es glücklicherweise schon besser. Nach fünf Tagen stellten sich ein angenehmes Empfinden und eine Lust am Gebet ein. Und eines Morgens hatte ich plötzlich das Gefühl, als hätte mich das Gebet geweckt. Mein ganzes Verlangen drängte mich danach, das Jesusgebet zu verrichten. Meine üblichen Morgengebete sprach meine Zunge nur noch ganz ungeschickt aus. Als ich schließlich das Jesusgebet sprach, kamen die Worte wie von selbst. Den ganzen Tag war ich voller Freude — ich war wie in einer anderen Welt, und mit Leichtigkeit schaffte ich es, die 12000 Gebete schon am frühen Abend abgeschlossen zu haben. Ich hatte große Lust weiter zu machen, wagte aber nicht, mehr zu wiederholen als mir mein Starez gesagt hatte. Auch an den folgenden Tagen konnte ich mit derselben Leichtigkeit das Gebet wiederholen. Als ich wieder zu meinem Starez ging und ihm Bericht erstattete, freute er sich, dass ich diese Lust und Leichtigkeit gefunden hatte. Er erklärte mir, dass dies eine natürliche Folge der häufigen Übung sei. Nun gestattete er mir, das Gebet so oft ich wollte und so viel wie möglich zu wiederholen. Ich sollte den Namen Jesu ohne zu zählen anrufen, mich demütig seinem göttlichen Willen ergeben und von ihm alle Hilfe erwarten.

Den ganzen Sommer verbrachte ich dann im unablässigen mündlichen Jesusgebet. Sogar in meinen Träumen träumte ich, dass ich das Gebet wiederhole. Ich spürte eine große Ruhe. Alle fremden Gedanken hörten ganz von selbst auf. Ich dachte an nichts anderes als an das Gebet. Manchmal spürte ich eine selige Wärme in meinem Herzen. Ich wusste nicht, wie ich Gott danken sollte. Traf ich einen Menschen, so erschien er mir immer so liebenswert und nah, als wäre er mein Verwandter, auch wenn ich gar nichts mit ihm zu tun hatte.

Aber ich konnte mich nicht lange an der Anwesenheit meines geliebten Starez erfreuen, denn gegen Ende des Sommers starb er. Das einzige, was mir von ihm blieb, war der Rosenkranz.

Wiederaufnahme der Pilgerschaft

Der Bauer, dessen Acker ich bewacht hatte, hatte jetzt nach dem Sommer keine Arbeit mehr für mich. Er gab mir zwei Rubel und entließ mich. Da ich keinen Lehrer mehr hatte, wollte ich wenigstens mit Hilfe des Buches Philokalia weiter im Gebet vorankommen. Leider erfuhr ich, dass mein Geld für ein neues Buch nicht reichte. Durch Gottes Willen jedoch fand sich schließlich jemand, der mir ein völlig zerlesenes Exemplar für zwei Rubel überließ. Dann nahm ich meine Pilgerschaft wieder auf.

Unablässig betend wanderte ich manchmal bis zu 70 Kilometer am Tag. Ich fühlte dabei gar nicht, dass ich ging, denn ich fühlte nur, dass ich das Gebet verrichtete. Es wurde mir wertvoller und süßer als alles andere in der Welt. Kam eisige Kälte, dann erwärmte mich das Gebet. Marterte mich der Hunger, dann ließ mich das Gebet vergessen, dass ich essen wollte. Fühlte ich mich krank, dann machte das Gebet, dass ich den Schmerz nicht mehr spürte. Beleidigte mich jemand, so verschwand durch die Süße des Jesusgebets sogleich die Kränkung und der Zorn. Ich machte mir um nichts mehr Sorgen.

Gleichzeitig war mir bewusst, dass mein Zustand sozusagen nur künstlich durch die gewohnheitsmäßige Wiederholung erzeugt war. Das eigentliche Herzensgebet hatte ich noch gar nicht erlernt. Ich traute mich jedoch nicht, mir eigenmächtig das innere Herzensgebet anzueignen. Dazu wartete ich auf ein Zeichen von oben.

Das innere Herzensgebet

Als ich so meines Weges zog und unablässig das Gebet verrichtete, da fühlte ich nach einiger Zeit, dass das Gebet ganz von selbst ins Herz überzugehen begann. Das Herz begann, mit dem Herzschlag irgendwie innerlich die Gebetsworte auszusprechen, und zwar so: 1: Herr, 2: Jesus, 3: Christus, usw. Ich hörte auf, das Gebet mit den Lippen zu sprechen und horchte verwundert, wie das Herz es betete. Dabei hatte ich die Empfindung, als würde ich mit den Augen nach innen schauen. Ich fühlte einen leisen Schmerz im Herzen und im Geist entzündete sich eine brennende Liebe zu Jesus. Danach entstand eine wohltuende Erwärmung im Herzen, die sich über die ganze Brust ausbreitete.

Eifrig studierte ich meine Philokalia, um zu verstehen, was in mir vor sich ging. Manche Stellen des Buches verstand ich nicht. Durch Gottes Gnade erschien mir jedoch mein verstorbener Starez von Zeit zu Zeit im Traum und gab mir Erläuterungen. So verbrachte ich meine Zeit in großer Seligkeit, mein Herz war entflammt von der Liebe Gottes durch das innere Gebet. Ich begann zu verstehen, was gemeint ist mit: „Ihr werdet in mir sein“ und „Gib mir dein Herz“.

Wenn ich so mit meinem Herzen betete, schien die ganze Umgebung zu mir zu sprechen: die Bäume, die Gräser, die Vögel, die Erde, die Luft, das Licht, — alles schien die Liebe Gottes zu bezeugen. Ich begann zu verstehen, was in der Philokalia gemeint war mit der Aussage: „Die Sprache der Geschöpfe verstehen.“

Nach einigen Abenteuern, die ich mit Hilfe des Gebets heil überstand, traf ich in einer ganz einsamen Gegend einen Waldhüter, der mir eine alte Erdhütte als Unterkunft zuwies und sein Brot mit mir teilte. Dieser Waldhüter hatte sich aus Angst vor dem jüngsten Gericht seit 10 Jahren schwere Kasteiungen auferlegt. Nun wurde er zunehmend von depressiven Gedanken und von Zweifeln geplagt. Ich sagte ihm, dass es knechtisch sei, etwas aus Angst zu tun, und dass man nie Ruhe vor feindlichen Gedanken habe, außer man denke ständig voller Liebe an Gott. So gut ich konnte, erklärte ich ihm das unablässige Jesusgebet.

In der mir zugewiesenen Erdhütte vertiefte ich mich weiter in das Gebet. Mein Gott, welche Freude ich empfand, welche Ruhe, welche Wonne! Eines Nachts träumte ich, ich sei in der Zelle meines verstorbenen Starez. Er begann mir die Philokalia zu erklären. Mir war, als hätte ich das Buch in den Händen, konnte aber nicht so schnell die Stellen finden, die der Starez erklärte. Da nahm er mir das Buch aus der Hand, schlug die Stelle auf und markierte sie mit einem Stückchen Holzkohle. Als ich am nächsten Tag erwachte, blieb ich erst noch liegen und wiederholte im Gedächtnis, was er mir gesagt hatte, damit ich es ja nicht vergessen würde. Aber dann kam der Zweifel: „Vielleicht ist es ja nur meine Einbildung, die zu diesem Traum geführt hat? Man bildet sich ja so manches ein.“ Voller Zweifel stand ich auf. Meine Philokalia lag auf dem großen Stein, den ich als Tisch benutzte. Erstaunt sah ich, dass sie an genau der Stelle aufgeschlagen war, die mir der Starez im Traum gezeigt hatte und dass dort auch seine Markierung war. Ich erinnerte mich genau, dass dort vorher keine Markierung gewesen war und dass ich das Buch abends geschlossen ans Kopfende meines Schlaflagers gelegt hatte. Mein Zweifel verschwand und voller Eifer befolgte ich, was der Starez mir gesagt hatte. Ich begann nun, das Jesusgebet zusammen mit dem Atem ins Herz ein- und wieder herauszuführen: Geistig ins Herz blickend betete ich beim Einatmen: „Herr Jesus Christus“, und beim Ausatmen: „erbarme dich meiner“.

Anfangs übte ich das eine Stunde; langsam erhöhte ich die Zeit, bis ich fast den ganzen Tag damit ausfüllte. Viele neue Empfindungen spürte ich im Herzen. Manchmal war mein Herz voller Leichtigkeit, Freiheit und Trost. Ich war wie verwandelt und glaubte vor Wonne zu vergehen. Manchmal kamen mir Tränen des Dankes an Gott. Manchmal wurde mein Verstand so klar, dass ich mit Leichtigkeit Dinge erfasste, die ich früher nie verstanden hätte. So erneuerte das Herzensgebet Geist, Körper und Verstand: Mein Geist erlebte die Süße der Liebe Gottes, innere Ruhe und Reinheit der Gedanken, — mein Körper erlangte Leichtigkeit und Frische, Unempfindlichkeit für Kummer und Krankheiten, und ich empfand das Leben als angenehm — mein Verstand erkannte die Sprache der Schöpfung, die Nähe Gottes und die Bedeutung der heiligen Schrift.

Fünf Monate verbrachte ich in der Einsamkeit der Erdhütte mit dieser Gebetsübung, bis ich mich so sehr an das Herzensgebet gewöhnt hatte, dass es sich ganz von selbst ohne irgendeine Anstrengung meinerseits verrichtete. Sogar im Schlaf wurde es durch nichts unterbrochen. Als dann der Wald abgeholzt wurde, mußte ich die Erdhütte verlassen. Ich dankte dem Waldhüter und nahm meine Wanderschaft wieder auf.

Das selbsttätige Herzensgebet ist seitdem auf allen Wegen mein Trost und meine Freude. Bei allen Begegnungen, die ich inzwischen hatte, hat es nie aufgehört, mich mit Wonne zu erfüllen. Diese Wonne ist nie eintönig, sondern stets neu und anders. Das Gebet selbst wird seltsamerweise durch nichts gestört und stört seinerseits keine Tätigkeit. Wenn ich eine Arbeit vorhabe, geht mir die Arbeit durch die Anwesenheit des Gebetes leichter von der Hand. Sogar wenn ich aufmerksam zuhöre oder lese, hört das Gebet nicht auf. Ich fühle gleichzeitig das eine und das andere, als wäre ich gespalten oder als hätte ich zwei Seelen in meiner Brust.

Ich habe viele Abenteuer erlebt, in denen ich manchmal geehrt und manchmal gedemütigt wurde. Mein Starez erschien mir im Traum, wenn ich dabei war, Fehler zu machen, und er wies mir den Weg. Wenn es sich ergab, führte ich andere in das unablässige Gebet ein, und wurde dadurch oft selbst weiter angespornt.

Manchmal erfüllt mich das Herzensgebet mit solcher Wonne, dass ich nicht glaube, es könnte jemanden geben, der glücklicher ist als ich. Nicht nur das Innere meiner Seele, sondern auch die ganze Außenwelt erscheint mir wunderbar schön. Alles verlockt mich zur Liebe und zum Dank an Gott. Menschen, Bäume, Pflanzen, Tiere, alles ist mir unaussprechlich vertraut, und in allen sehe ich den Namen Jesu. Manchmal fühle ich eine solche Leichtigkeit, als hätte ich überhaupt keinen Körper, etwa so, als würde ich durch die Luft fliegen. Manchmal empfinde ich eine solche Freude, als wäre ich König geworden, und möchte am liebsten sterben und mich in Dankbarkeit zu Gottes Füßen in die geistige Welt ergießen. Und wenn es dann doch einmal vorkommt,orthodoxes-kreuz.gif, 6,7kB dass unruhige Gedanken auftauchen, dann vertiefe ich mich in das Gebet und finde wieder Mut, indem ich mir selber sage: „Gottes Wille geschehe; ich bin bereit, alles zu erdulden, was mir Jesus auferlegt.“

Manche verschütten Tränenströme, weil ihnen kein Sohn geboren wurde, anderen nagt es am Herzen, dass ihnen keine Reichtümer zu teil geworden sind. Aber ach, wie wenige sorgen sich und weinen, weil sie Gott nicht geschaut haben? Wahrlich, diejenigen, die Gott suchen und um ihn weinen, die erlangen ihn. — Sri Ramakrishna