Das Leben der Sannyâsinî Gaurî-Mâ (1857-1938)

Gut zu sein, reicht nicht aus, du musst auch stark sein

In den ältesten vedischen Überlieferungen wird die indische Frau als gleichberechtigt zum Mann dargestellt. Im Lauf der Jahrtausende geriet sie jedoch immer mehr in eine abhängige Position. Respektable Frauen verbrachten schließlich ihr Leben in den Frauengemächern des Hauses und begaben sich nur in Sänften aus dem Haus. Sogar in der Reformbewegung des 19. Jahrhunderts, dem Brahmo-Samaj, blieben Frauen bei Versammlungen hinter einem Vorhang. Als Swâmi Vivekânanda diese traurige Situation ändern wollte, war sein Hauptproblem, dass die indischen Frauen selbst an ihre Unselbständigkeit und Schwäche glaubten. Seine Arbeit zur Besserung der Lage der indischen Frau wurde daher von seinen westlichen Schülerinnen begonnen. Es gab jedoch immer Ausnahmen unter den indischen Frauen. Gaurî-Mâ ist ein Beispiel. Aus dem, was wir über sie wissen, ergibt sich folgende Lebensgeschichte:

Kindheit

1857 wurde in einer wohlhabenden Brahmanenfamilie ein Mädchen geboren, das vierte von sieben Kindern. Die Mutter, eine Verehrerin der Göttin Kâlî, hatte vor der Schwangerschaft geträumt, dass Kâlî ihr ein Baby überreichte. Das dann geborene Mädchen erhielt deshalb einen der Namen der Göttin, nämlich »Mridânî«, die Segnende. Mridânî wuchs in Süd-Kalkutta auf, im Viertel des Kâlîghat-Tempels. Als Kind liebte sie es, von einem Onkel Geschichten über die heiligen Orte zu hören, vor allem über den Himâlaya. Dieser Onkel war in der Handlesekunst bewandert und sagte: „Das Mädchen wird eine Yoginî.“

Schon als Kind zeigte Mridânî Unabhängigkeit. Einmal, als sie mit ihrem Bruder per Boot auf dem Ganges unterwegs war, überlegte sie sich: „Warum tragen Frauen eigentlich Schmuck? Werde ich unglücklich sein ohne Schmuck?“ Dann nahm sie ihren goldenen Armreif ab, versuchte hineinzubeißen, und als sie fand, dass Gold keinen Geschmack hat, warf sie ihn einfach in den Fluss.

Mridânî kam auf eine von englischen Missionaren geleitete Schule — andere Schulen für Mädchen gab es nicht. Die Schulleiterin erkannte ihre Begabung und schlug sogar vor, sie zu „higher studies“ nach England zu schicken. Mridânî scheint sich jedoch an den religiösen Ansichten der Lehrerinnen gestoßen zu haben. Ihre Schulzeit dauerte nicht lange. Wahrscheinlich wurde sie innerhalb ihrer Familie weiter unterrichtet. Sie lernte jedenfalls viele Passagen aus den heiligen Schriften und sogar Sanskrit — etwas damals für Mädchen Ungewöhnliches.

Krishna

Religiöse Initiation

Als sie neun oder zehn Jahre alt war, geschah eine Reihe von Ereignissen, die ihr späteres Leben ausrichteten. Ein ihr unbekannter brahmanischer Sâdhu besuchte auf dem Weg zum Kâlîghat-Tempel kurz eine Nachbarin. Mridânî, die in der Nähe spielte, fühlte sich von dem Sâdhu angezogen, lief zu ihm und verneigte sich vor ihm. Der Sâdhu wechselte einige Worte mit ihr und segnete sie schließlich, indem er seine Hand auf ihren Kopf legte und sagte: „Mögest du Verehrung zu Krishna erlangen.“

Von der Nachbarin erfuhr Mridânî, dass dieser Sâdhu zum Fest von Râsa-Pûrnimâ, welches Krishna und den Gopis gewidmet ist, in einem bestimmten Âshram in einem nördlichen Vorort von Kalkutta sein würde. In der Nähe wohnte eine Tante von ihr; als das Fest näherrückte, ergab es sich, dass Mridânî mit ihrem erwachsenen Bruder diese Tante besuchte. Einen Tag vor dem Fest entschloss sich Mridânî, ohne jemandem Bescheid zu sagen, ihren Sâdhu zu besuchen. Sie fragte sich durch und erreichte schließlich den Âshram, wo sie den Sâdhu meditierend in einer Hütte vorfand. Nachdem er seine Meditation beendet hatte, hieß er sie herzlich willkommen und arrangierte, dass sie bei einer Nachbarfamilie übernachten konnte. Am nächsten Tag, dem Festtag, wies er sie an, im Ganges zu baden und initiierte sie dann mit einem Mantra in die Meditation über Krishna. Mridânîs Bruder hatte inzwischen überall nach seiner kleinen Schwester gesucht und kam schließlich, nach vielem Herumfragen, zum Âshram. Der Sâdhu nahm sie gleich in Schutz und sagte ihrem Bruder: „Mein Junge, ihr Leute dürft sie nicht ausschimpfen. Sie ist doch nur ein Kind. Es ist schwierig, so seltene Vögel wie sie zu Hause festzuhalten.“

Kurze Zeit nach dieser Initiation hatte Mridânîs Familie ungewöhnlichen Besuch: eine Brahmachârinî aus Vrindâvan. Diese Frau hatte sich ganz der Verehrung Krishnas verschrieben. Meistens blieb sie im Gästezimmer in Meditation und Andacht; den Rest der Zeit verbrachte sie mit religiösen Gesprächen mit den weiblichen Mitgliedern der Großfamilie. Einmal fand Mridânî einen schönen flachen runden schwarzen Stein im eigenen Zimmer. Als sie ihn aufhob und bewunderte, kam die Brahmachârinî aufgeregt herein und entriss ihr den Stein. Später erzählte sie Mridânî die Geschichte des Steines. Sie nannte den Stein Dâmodara-Shilâ, d.h. Krishna-Stein (Shilâ=Stein; Dâmodara=„mit der Schnur um den Bauch“, ein Name Krishnas, da seine Plegemutter versuchte, ihn als Kind so festzubinden). In diesem Stein manifestierte sich für die Brahmachârinî auf mysteriöse Weise Krishna. Dieser Stein war ihr Alles in Allem, sie verehrte ihn täglich mit einer Pûjâ. Sie erklärte Mridânî: „Dieses Gottessymbol ist lebendig. Es hat sich in dich verliebt. Deshalb gebe ich es dir. Verehre es täglich.“ Mridânî akzeptierte das ungewöhnliche Geschenk und betrachtete danach diesen heiligen Stein als ihren Ehemann. Bis zu ihrem Tod trug sie den Stein bei sich und verehrte ihn täglich. Die Brahmachârinî zog kurz darauf weiter und kam nie wieder.

Mridânîs Desinteresse an den normalen weltlichen Vergnügungen wurde in der Familie bemerkt und man dachte, dass eine Heirat diese Einstellung ändern würde. Die zehnjährige Mridânî protestierte jedoch lautstark: „Ich werde nur denjenigen heiraten, der niemals stirbt.“ Aber als sie dreizehn war, wurde ein Bräutigam ausgesucht und der Termin für die Hochzeit festgelegt. Mridânîs Protest half nichts. Als der Bräutigam mit seiner Familie ankam, kannte ihre Wut keine Grenzen. Sie schloss sich in das Zimmer ein, in dem die Sachen für das Hochzeitsfest lagerten, zerstörte, was sie konnte und warf es nach draußen. Ihre Familie wurde sehr böse mit ihr und es blühte ihr eine Tracht Prügel. Doch ihre Mutter hatte Mitleid und ließ Mridânî durch einen Hinterausgang zu den Nachbarn entwischen. Dort blieb sie einige Tage, bis sich die Wut ihrer Familie gelegt hatte.

Zu Hause wurde danach das Thema Heirat nicht mehr angeschnitten. Notgedrungen wurde akzeptiert, dass Mridânî ein religiöses Leben führen wollte, — wohlbehütet zu Hause, im Familienrahmen, mit vielleicht ab und zu einer Pilgerfahrt — dachte man sich.

Pilgerleben und Askese

Im Frühjahr 1876, als Mridânî 18 Jahre alt war, entschlossen sich Familienmitglieder und Nachbarn zu einer Pilgerreise. Etwa 30 Personen, darunter Mridânî und ihre Mutter, wollten die Reise zur Gangesmündung und dann flussaufwärts nach Benares und Vrindâvan machen. Kurz vor der Reise wurde Mridânîs Mutter krank und konnte nicht mitkommen. Die Pilgergruppe erreichte bald die Gangesmündung und am dritten Tag des Aufenthaltes verschwand Mridânî. Die Pilger suchten drei Tage vergebens nach ihr, brachen dann die Reise ab und kehrten unverrichteter Dinge nach Kalkutta zurück. Mridânîs Mutter wurde von Kummer niedergeschlagen. Die Familie sandte Boten zu verschiedenen heiligen Orten Indiens, um eine Belohnung von 1000 Rupien anzukündigen für denjenigen, der das Mädchen fände. (Zum Vergleich: Das Monatsgehalt eines Priesters im Dakshineswar-Kâlî-Tempel betrug damals 7 Rupien.)

Mridânî hatte sich in einem Busch versteckt, von wo aus sie ungesehen ihre Pilgergruppe beobachten konnte. Nachdem die Pilger wieder abgereist waren, gesellte sie sich einer Gruppe von Sâdhus aus dem Himâlayagebiet zu, bei denen auch weibliche Mitglieder waren. Sie nahm deren ockerfarbene Kleidung an und wanderte mit ihnen. In navadvîp wurde sie — jetzt oder bei einem späteren Aufenthalt — von einem Vaishnava Guru als Sannyâsinî ordiniert und erhielt den Namen Gaurî Purî Devî. Gaurî, die hell Scheinende, ein Name der göttlichen Mutter. Vielleicht erhielt sie den Namen auch, weil sie eine relativ helle Hautfarbe hatte. Nach drei Monaten erreichte ihre Gruppe Hardwar am Fuß des Himâlaya, die Gegend, von der sie als kleines Mädchen schon so viel von ihrem Onkel gehört hatte. Hier machte sich Gaurî selbständig und wanderte allein weiter, ungebunden. Sie schnitt ihre Haare ab und beschmierte ihr Gesicht mit Asche oder Lehm, um ihre körperliche Schönheit zu verbergen. Wenn man sie fragte, wer sie sei, antwortete sie, sie sei verheiratet und lebe mit ihrem Ehemann zusammen. Natürlich war dieser Ehemann die Gottheit, die sie in Form des Steins in einem Säckchen an einer Schnur um den Hals trug. Sie hatte außerdem ein Bild der Göttin Kâlî bei sich und eines von Chaitanya, sowie zwei Bücher, das Bhâgavatam (enthält Krishnas Geschichte) und das Devî-Mâhâtmyam (Glorie der Göttin). Manchmal trug sie Turban und Männerkleidung. Manchmal, um in Ruhe gelassen zu werden, tat sie so, als sei sie verrückt. Die folgenden drei Jahre besuchte sie alle wichtigen Pilgerorte in den Himâlayas. Sie blieb auch im Winter in der Region und begab sich nicht ins Flachland, aus Furcht, dass man sie dort erkennen und zu ihrer Familie zurückbringen würde.

Während dieser Zeit lernte sie die unterschiedlichsten Arten von heiligen Männern kennen, ohne sich aber in ihrem spirituellen Leben von irgendeinem abhängig zu machen. Ihre spirituellen Übungen wählte sie selbst aus. Es waren vor allem Schweigen, Fasten, Studium der heiligen Schriften und Mantra-Meditation von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang.

Manchmal erbettelte sie ihre Nahrung von Tür zu Tür, manchmal kamen Menschen von selbst mit Essen zu ihr oder luden sie zu sich ein. Einmal, als sie eine schneebedeckte Brücke überquerte, brach diese ein und sie fiel in den strömenden Fluss. Sie konnte nicht schwimmen, wurde jedoch an Eisschollen herangespült und konnte sich so retten. Einmal verlief sie sich im winterlichen Wald. Als sie kurz davor war, das Bewusstsein zu verlieren, tauchte plötzlich eine Frau auf und führte sie zum nächsten Dorf. Die Dorfleute kümmerten sich gleich um sie, jene Frau jedoch verschwand, ohne von jemandem bemerkt worden zu sein.

Nach drei Jahren wanderte sie sich ins westliche Indien. Dort kam sie zu einem Dorf, in dem Cholera ausgebrochen war. Man warnte sie davor, hineinzugehen. Unbeeindruckt jedoch verlangte sie den Dorfältesten zu treffen und begann mit ihm die Organisation medizinischer Hilfe und Krankenbetreuung zu besprechen. Inspiriert durch die Furchtlosigkeit dieser jungen Asketin, wurde tatsächlich Hilfe auf die Beine gestellt. Auf Gaurîs Aufforderung hin führten zwölf Brahmanen im Dorf Opferzeremonien durch und rezitierten aus den Schriften, was die Stimmung im Dorf merklich verbesserte. Die Epidemie im Dorf flaute einige Tage später ab.

Dann kam sie nach Dwâraka, der Stadt, in der Krishna einst regiert hatte. Als sie dort vor dem Krishna-Tempel meditierend ihr Mantra wiederholte, hatte sie die Vision des jugendlichen Krishna. Diese Vision erweckte in ihr ein ungekanntes Verlangen nach ihrem geliebten Gott. Sie wanderte nach Vëndâvan, dem Ort der Jugend Krishnas, und stürzte sich dort in intensive spirituelle Übung. Das Verlangen nach Krishna wurde so groß, dass sie es eines Nachts nicht mehr aushalten konnte und an dem Punkt war, sich das Leben zu nehmen. Da brach die Erleuchtung durch und die materielle Welt verschwand. Am nächsten Morgen wurde Gaurî auf dem Boden liegend von Dorffrauen gefunden. Diese kümmerten sich um sie und brachten sie langsam wieder zum äußeren Bewusstsein. Doch selbst dann blieb Gaurî noch einige Zeit in einem seltsamen geistigen Zustand: sie lachte und weinte abwechselnd, während Tränenströme aus ihren Augen flossen. Die Neuigkeit von der mystischen Erfahrung der jungen Sannyâsinî verbreitete sich in der Umgebung. In Mathurâ, der nächsten Stadt, wohnte einer ihrer Onkel, der davon hörte. Er fand Gaurî schließlich und zeigte ihr einen Brief ihrer von Trauer überwältigten Mutter. Dann überredete er sie, zusammen mit ihm nach Kalkutta zu reisen.

In Kalkutta wurde sie von ihrer weinenden und überglücklichen Mutter umarmt. Die ganze Familie freute sich über die Rückkehr der Tochter. Doch das mystische Erlebnis in Vrindâvan hatte Gaurî verändert und die Familie spürte dies. Eine erhabene Ruhe herrschte in Gaurîs Geist. Die Welt konnte sie nicht mehr halten. Sie blieb nur recht kurz zu Hause und wanderte dann wieder fort als freie Pilgerin.

Râmakrishna

Râmakrishna
(Zeichnung: René Zwaga)

1882 — sie war jetzt 25 und hatte fast sieben Jahre das Leben einer heimatlosen Asketin geführt — akzeptierte Gaurî wieder eine Einladung nach Kalkutta. Dort wohnte sie im Haus von Balarâm Basu, einem Anhänger von Râmakrishna. Der versuchte sie zu überreden, einmal seinen Meister zu besuchen. Sie jedoch lachte darüber:

„Ich habe genug heilige Männer in meinem Leben gesehen. Ich habe kein Verlangen, einen weiteren zu sehen. Wenn dein heiliger Mann wirklich so viel Kraft hat, dann soll er mich doch mit seiner Kraft zu sich hinziehen. Etwas anderes wird mich nicht dazu bringen, ihn zu besuchen.“

An einem der nächsten Tage passierte Folgendes: Als Gaurî sich zur täglichen Pûjâ setzte und das Steinsymbol auf einen kleinen Altar legte, glaubte sie auf dem Altar zwei Fußabdrücke zu sehen. Als sie geweihte Blätter des Tulsi-Strauches auf das Steinsymbol legen wollte, fielen diese auf die Fußabdrücke. Ein Bericht sagt sogar, sie hätte zwei tatsächliche Füße gesehen. Gaurî verlor das Bewusstsein der äußeren Welt und wurde Stunden später von den Frauen des Hauses am Boden liegend gefunden. Als sie wieder etwas zu sich kam, zeigte sie durch Gesten, dass etwas wie eine Schnur an ihrem Herz ziehe. Bis zum nächsten Morgen blieb sie stumm in einem seltsamen Zustand und schien dann aus dem Haus gehen zu wollen. Balarâm ergriff die Gelegenheit, bestellte eine Kutsche und nahm sie zusammen mit seiner Frau und anderen Frauen der Nachbarschaft mit zu Râmakrishna nach Dakshineswar.

Als sie Râmakrishnas Zimmer betraten, saß dieser auf seinem Bett und wickelte eine Schnur um ein Hölzchen. Dabei sang er ein Lied, das die Einheit von Krishna und Kâlî beschrieb. Nach dem Ende des Lieds legte er das Hölzchen beiseite. Gaurî merkte, dass das merkwürdige Ziehen in ihrer Herzgegend verschwunden war und einer inneren Freude Platz gemacht hatte. Balarâm stellte Gaurî als Verwandte eines Freundes vor. Sie hatte ihr Gesicht mit dem Ende ihres Saris verschleiert, der damaligen Sitte entsprechend, und war kaum zu erkennen. Râmakrishna jedoch antwortete: „Sie ist hier seit langem bekannt. Sie gehört hierher.“

Dann begann er auf seine charmante Art spirituelle Themen zu besprechen und zum Abschied sagte er zu Gaurî liebevoll: „Komm wieder, Mâ.“

Gaurî kamen Râmakrishnas Gesichtszüge und Gesten bekannt vor. Schließlich verknüpften sich ihre Erinnerungen: Dies war tatsächlich derselbe brahmanische Sâdhu, der sie als Kind in die Krishna-Meditation initiiert hatte! Zurück in Balarâms Haus packte sie ihre wenigen Sachen und war am nächsten Tag wieder in Dakshineswar. Râmakrishna empfing sie mit den Worten: „Ich habe gerade an dich gedacht.“

Sie erwiderte: „Vater, ich wünschte, ich hätte schon eher gewusst, dass Ihr Euch hier versteckt gehalten habt.“

Râmakrishna lachte: „Wenn du mich früher entdeckt hättest, wie hättest du dann all die Askese praktizieren können, die du praktiziert hast?“

Schließlich führte er Gaurî zum Musikturm des Tempels, in dessen Erdgeschoss seine Frau Sâradâ wohnte und rief zu dieser: „Liebe, du wolltest doch eine Gefährtin haben. Hier ist eine.“

Sâradâ

Die nächsten drei Jahre lebte Gaurî die meiste Zeit in Dakshineswar und erkundete unter Râmakrishnas Führung das Reich der Erleuchtung. Râmakrishna schätzte an ihr, dass jede ihrer Handlungen von Hingabe begleitet war. Sie hatte auch eine gute Stimme, und er geriet oft in Samâdhi, wenn sie für ihn sang. Sâradâ ihrerseits bewunderte Gaurîs ekstatische Meditation. Gaurî blieb dabei ganz humorvoll, was zwei Beispiele zeigen:

1. Einmal, als Sâradâ zum Bad im Morgengrauen die Stufen zum Ganges hinunterschritt, lag dort ein Krokodil. Sâradâ wäre beinahe darauf getreten, wenn nicht das Krokodil, vom Geräusch menschlicher Schritte aufgescheucht, vorher wieder ins Wasser geglitten wäre. Sâradâ schrie entsetzt auf und rannte zurück zum Musikturm. Gaurî nahm sie gleich in die Arme und beruhigte sie:

„Mâ, es war kein Krokodil. Es war Gott Shiva! Er wollte von deinen heiligen Füßen berührt werden.“

Sâradâ entgegnete: „Hör auf mit dem Quatsch. Ich sterbe fast vor Furcht.“

Woraufhin Gaurî erwiderte: „Mâ, du bist die Verkörperung der Furchtlosigkeit, wie kannst du da Furcht empfinden?“

2. Râmakrishna hatte die Zuneigung von Gaurî zu Sâradâ bemerkt. Eines Tages, um sie zu necken, fragte er sie in Gegenwart von Sâradâ: „Nun, wen liebst du mehr, sie oder mich?“

Gaurî war der Situation gewachsen und antwortete mit einem Lied:

„Oh Krishna, du Flötenspieler, sicherlich bist du nicht größer als Râdhâ. Diejenigen, die in Schwierigkeiten stecken, beten wohl zu dir, aber wenn du in Schwierigkeiten steckst, ist es Râdhâ, die du mit deiner Flöte rufst.“

Mit Krishna und Râdhâ waren Râmakrishna und Sâradâ gemeint. Sâradâ geriet heftig in Verlegenheit, Râmakrishna jedoch lachte freudig über den Spaß und ging weiter.

Gaurî hatte den unausgesprochenen Wunsch nach einem gemeinsamen ekstatischen Erlebnis der Glückseligkeit, wie es Srî Chaitanya und seine Anhänger erfahren hatten. Dieser Wunsch wurde unerwartet erfüllt: Eines Tages, als Râmakrishna mit einigen Anhängern in seinem Zimmer saß, brachte sie ihm sein Essen, das sie selbst gekocht hatte. Soeben hatte sie es vor Râmakrishna angerichtet und er wollte gerade anfangen zu essen, als sie in ihrem Inneren spürte, wie ein starkes ekstatisches Gefühls aufwallte. Freudentränen traten aus ihren Augen. Wie eine Infektion übertrug sich dieses Gefühl auf alle Anwesenden. Râmakrishna erhob sich, bewegt von dem Anblick. Die Anwesenden wurden von einer geistigen Spannung erfasst, vergaßen sich und die Welt — einige begannen zu lachen, andere weinten, andere begannen zu singen im Überfluss der Freude. Manche zitterten am ganzen Körper und manche rollten auf dem Boden. Alles geschah im Nu, keiner war darauf gefasst. Die Ekstase hielt an, bis Râmakrishna die Einzelnen kurz berührte und sie so zur Normalität zurückbrachte.

Der Same des Dienens

Einmal sagte Râmakrishna zu ihr: „Die Frauen in Jadu Malliks Haus warten darauf, dich zu sehen. Du solltest einmal zu ihnen gehen.“

Gaurî mochte die Idee nicht besonders: „Vater, das ist deine Geschichte! Warum preist du mich so vor anderen an?“

Einige Tage später forderte Râmakrishna sie direkt auf: „Los, lass uns zu ihnen gehen“, und sie folgte.

Ein anderes Mal, als sie gerade für die Pûjâ Blumen pflückte, kam er zufällig mit einem Wasserkrug vorbei. Etwas Wasser ausgießend sagte er: „Gaurî, ich gieße das Wasser und du knetest den Lehm.“

Erstaunt antwortete sie: „Hier ist doch kein Lehm, hier ist doch alles voller Steine.“ — „Du hast falsch verstanden“, erwiderte Râmakrishna. „Der Zustand der Frauen in diesem Land ist traurig und schmerzhaft. Dort liegt dein Arbeitsfeld.“

Gaurî mochte die Idee nicht. Einige Tage später erklärte sie: „Ich kann es bei weltlichen Leuten nicht aushalten. Ich hasse deren Lärm und Geschäftigkeit. Gib mir ein paar Mädchen, ich werde sie zum Himâlaya bringen und dort formen.“ — „Nein, nein“, erwiderte Râmakrishna, „du musst es hier tun, hier in dieser Stadt. Genug Askese, jetzt diene den Frauen mit deiner geistigen Energie. Sie leiden fürchterlich.“

Fortsetzung des Pilgerlebens

Doch in Gaurîs Geist lebte noch der Wunsch nach Askese an einem einsamen Ort. Râmakrishna riet ihr schließlich: „Geh, und komme so bald wie möglich zurück.“

Gaurî begab sich daraufhin nach Vrindâvan — es war inzwischen 1885 — und praktizierte in einer Grotte am Fluss neun Monate lang Meditation von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang.

In der Zwischenzeit verschlechterte sich Râmakrishnas Gesundheit und er drückte den Wunsch aus, Gaurî noch einmal zu sehen. Die Versuche, sie per Post zu erreichen, scheiterten jedoch. Einige Tage vor seinem Tod im August 1886 sagte er: „Sie war mir sehr nahe für so lange Zeit, aber jetzt wird sie mich nicht mehr sehen.“

Die Nachricht von Râmakrishnas Tod erreichte sie allerdings. Sie war so schockiert, dass sie daran dachte, ihr Leben zu beenden. Eine Vision scheint sie jedoch daran gehindert zu haben.

Nach Râmakrishnas Tod gingen Sâradâ und einige seiner Schüler auf Pilgerfahrt. Ende 1887 kam Sâradâ von der Pilgerfahrt zurück und bezog den von Râmakrishna geerbten Teil dessen Geburtshauses: eine Lehmhütte im Dorf Kâmârpukur. Bald begannen die Dorfleute jedoch darüber zu reden, dass Sâradâ sich nicht wie eine Witwe kleidete — d.h. mit einem weißen Sari ohne farbigen Rand, keinen Schmuck tragend und die Haare geschoren. Râmakrishna hatte Sâradâ in einer Vision kurz nach seinem Tod angewiesen, das nicht zu tun. Der soziale Druck des Dorfklatsches war jedoch erheblich, so dass sie sich entschloss, wenigstens ihre goldenen Armreifen abzulegen. Râmakrishna erschien allerdings wieder und sagte: „Nimm deine Armreifen nicht ab. Heute abend wird Gaurî kommen und dir alles erklären.“

Tatsächlich kam Gaurî nachmittags unerwartet an. Jetzt folgt ein typisches Beispiel, wie Gaurî die Tradition neu auslegte: Sie erklärte Sâradâ mit Hilfe der heiligen Schriften, dass der Ehemann in Wahrheit eine Form des reinen unsterblichen Bewusstseins sei. Deshalb könne eine Frau gar nicht Witwe werden. So gestärkt, konnte Sâradâ dem sozialen Druck widerstehen.

Gaurî zog weiter nach Kalkutta, wo sie unter anderem das frisch gegründete Kloster der jungen männlichen Schüler Râmakrishnas besuchte. Danach wanderte sie, frei von allen Bindungen, weiter nach Süd-Indien.

Der Same trägt Frucht

1895, acht Jahre später, sie war jetzt 38 und hatte ganz Indien bewandert, kam sie wieder in die Gegend von Kalkutta. In einem Dorf zeigten sich die Bewohner so von ihr angetan, dass sie sie baten zu bleiben und einen Âshram zu errichten. Mit Hilfe von Spenden wurde ein Grundstück gekauft und eine einfache Hütte gebaut. Gaurî sagte zu und taufte den Âshram zu Ehren von Râmakrishnas Frau Sâradeswarî-Âshram. Der Âshram wurde zu einer kostenlosen Schule für Hindu-Mädchen des Dorfes, eine Gruppe, die bisher ohne Schulbildung auskommen musste. Manche Mädchen benötigten auch eine Unterbringung. Bald wohnten 25 Mädchen im Âshram und weitere Häuser wurden auf dem Âshramgelände gebaut.

Einmal wollten drei Dorffrauen sehen, wie sich Gaurî in ihren Wanderjahren als Mann verkleidet hatte. Gaurî warnte sie, aber die drei bestanden auf ihrem Wunsch. Einige Tage später, als die drei im Innenhof ihres Hauses bei der Kochstelle saßen und plauderten, stand plötzlich ein fremder Mann mit einem großen Bambusstab bewaffnet vor ihnen, rief etwas auf Hindi und kam ihnen bedrohlich nahe. Die drei verloren völlig die Nerven und schrieen entsetzt auf. Der Mann begann laut zu lachen — es war Gaurî in Verkleidung:

„Ihr seid zu dritt in eurem eigenen Haus und habt Küchenmesser zur Hand. Warum werdet ihr hysterisch, wenn ein Unbekannter in euer Haus eingedrungen ist? Ist die vereinigte Kraft von drei Frauen etwa nicht genug, um einen Mann rauszuschmeißen? Einfach nur gut zu sein, ist nicht genug; man muss auch stark sein!“

Der Âshram 1924

Die finanzielle Situation des Âshrams blieb jedoch über die Jahre schlecht. Nur wenige Spenden kamen ab und zu aus Kalkutta. 1911 entschloss sich Gaurî, den Âshram nach Kalkutta zu verlegen. Sie begann dort in einem gemieteten Haus mit 7 Mädchen, wobei sie den Kontakt zu dem Dorf aufrechterhielt. Viermal zog der Âshram in größere Häuser um — es lebten bald 25 Mädchen dort und 70 weitere waren tagsüber beim Unterricht — bis 1924 ein eigenes stattliches Gebäude bezogen werden konnte. Etwa 50 Mädchen wohnten dort und 300 kamen täglich. Das geschah in einer Umgebung, in der man sich nicht vorstellen konnte, dass eine Frau, ohne Abhängigkeit von Männern, ohne Vermögen, ohne staatliche Unterstützung etwas derartiges aufbauen konnte. Aber wie Râmakrishna versprochen hatte: „Ich gieße das Wasser, du knetest den Lehm“, kam zu Gaurî immer genug Inspiration, um alle Schwierigkeiten tatkräftig zu überwinden.

Auf dem Unterrichtsplan standen: Bengalisch, Sanskrit, Englisch, Mathematik, Geschichte, Erdkunde, Hygiene, außerdem zum direkten Geldverdienen: Spinnen, Weben, Schneidern (bevor Gandhi diese Ideen propagierte); und schließlich: Freizeitaktivitäten und Ausflüge. (Nach Gaurîs Auffassung haben Sprachen einen großen Einfluss auf die Charakterbildung. Englisch sei zwar praktisch, aber es richte ihrer Meinung nach das Denken nach außen. Sanskrit hingegen richte es nach innen.) Die Lehrerinnen wohnten zusammen mit den Mädchen, weil Gaurî Wert legte auf herzliche Beziehungen zwischen ihnen. Für Gaurî war der Âshram ein Ideenverbreiter, um die Situation der Frauen zu verbessern. Bekannte Persönlichkeiten wurden darauf aufmerksam, selbst Gandhi zeigte sich von Gaurî beeindruckt und von ihrer Forderung nach Ausbildung für Frauen. Mitgefühl als Handlungsmotiv jedoch verwarf Gaurî: Der Mensch ist zu unbedeutend, um Mitgefühl anderen gegenüber zeigen zu können. Das Höchste, was man kann, ist anderen einen bescheidenen Dienst zu leisten, im Bewusstsein, dass diese anderen verschiedene Verkörperungen Gottes sind. Solcher Dienst reinigt und bringt einen näher zu Gott. Öffentlicher Applaus ist ein Hindernis auf dem Weg. Der Wunsch nach Gewinn und Ruhm als Lohn für die eigene Arbeit ist so etwas wie moralischer Selbstmord.

Gaurî lebte, was sie lehrte, und motivierte dadurch. Einmal, als Gaurî mit einigen Mädchen zum Ganges zum Baden gegangen war, wurde ein Mädchen durch die Strömung abgetrieben. Leute am Ufer sahen es, jammerten darüber, aber taten nichts. Gaurî schimpfte sie aus und sprang dann mit dem Ruf „Jay Mâ“ in den Fluss. Da alle wussten, dass Gaurî nicht schwimmen konnte, sprangen jetzt auch einige am Ufer stehende Männer in den Fluss und so wurde das Mädchen gerettet.

Auch für Männer hatte sie ihre spezielle Botschaft. In einem College für Jungen sagte sie:

„Jungen, ihr seid als Männer geboren. Lebt so, dass ihr auch wirklich solche seid. Wenn ihr keine Selbstbemeisterung habt, ist eure Ausbildung nutzlos. Betrachtet Frauen mit Respekt und versucht euer Bestes, um sie voran zu bringen. Wie könnt ihr wachsen, wenn ihr sie unterdrückt? Erinnert euch daran: Frauen sind Teil der Gottheit. Wenn sie nicht zu Kräften des Guten gemacht werden, werden sie zu Kräften des Bösen.“

Gauris „Grabstein“

Anfang 1938 träumte Gaurî, dass ein göttliches Wesen zu ihr kam mit der Botschaft, ihre irdische Mission sei beendet. In der Folgezeit war sie nur noch Sanftheit und gewährte alles. Am Morgen des 1. März übergab sie ihrer Nachfolgerin das Steinsymbol, das sie täglich verehrt hatte. Abends starb sie, 80-jährig. Am nächsten Tag wurde ihr Körper auf demselben Platz verbrannt, an dem auch Râmakrishna eingeäschert worden war.

Einige ihrer Worte

Der Mensch vergisst das Ziel seines Lebens durch Trägheit und Verwicklung in die Kleinigkeiten dieser Welt.

Egal ob du in der Familie lebst oder als heimatloser Pilger, es ist dein denkender Geist, auf den es ankommt. Ist das Denken rein, dann wird alles richtig laufen. Gott segnet denjenigen, dessen Denken rein ist.

Das Leben wird eine schwere Bürde, wenn du nicht Gott und seinen Segen suchst.

Kann sich Gott etwa zurückhalten gegenüber denen, die Ihn wirklich lieben? Er hungert nach Seinen Verehrern. Machst du einen Schritt auf Ihn zu, kommt Er dir zehn Schritte entgegen.

Wenn du Ihn erlangen willst, sind religiöse Übungen notwendig. Aber Menschen möchten kostenlos huckepack reisen — doch wie sollte das möglich sein?

Quellenangaben

Während ihrer Lebzeit erlaubte Gaurî nicht, dass eine Biographie von ihr geschrieben wurde. Die Quellenlage ist daher teilweise unsicher und widersprüchlich.

Benutzte Quellen in Reihenfolge der Wichtigkeit:

  • Anonym: Gauri Mata. Saradeswari Asram, Calcutta 1944
  • Sw. Chetanananda: Gauri Ma. In: They Lived With God, Shepheard Walwyn, London 1989
  • Sw. Prabhananda: Mridani Chattopadhyay. In: First Meetings With Sri Ramakrishna. Sri Ramakrishna Math, Mylapore/Madras 1987
  • Sw. Gambhirananda: Holy Mother Sri Sarada Devi. Sri Ramakrishna Math, Mylapore/Madras, 1977

Wie man in einem Kohlenherd das Feuer von Zeit zu Zeit mit dem Feuerhacken aufrüttelt, damit es gut brennt und nicht ausgeht, so sollte der Geist gelegentlich durch Gemeinschaft mit anderen Gottesverehrern gestärkt werden. — Sri Ramakrishna