Die Dunkelheit Gottes | Eine Nahtodeserfahrung

Professor John Wren-Lewis, geboren in England, lebt jetzt in Rente in Australien, wo er Ehrenmitglied der Universität Sydney ist. In den 1950er und 60ger Jahren wurde er durch Veröffentlichungen über Wissenschaft und Religion bekannt. Er war Professor für Mathematik, später für Psychologie an verschiedenen Universitäten in England und den USA.

J. Wren-Lewis mit seiner Frau

Quelle des Berichts:
Wren-Lewis, John: The Darkness of God. A Personal Report on Consciousness Transformation through an Encounter with Death. Journal of Humanistic Psychology, Vol. 28 No.2, Spring 1988, 105-122; © Sage Publications, Inc.

Ein Bericht von John Wren-Lewis, auf spirituelle Aspekte gekürzt und nacherzählt

Meine Nah-Todes-Erfahrung war zwar inhaltlich nicht so dramatisch wie manch andere, die in die Schlagzeilen kam. Ihre Nachwirkung jedoch erscheint mir immer noch dramatisch. Es ist nicht einfach eine veränderte Einstellung zum Leben, sondern es ist ein völlig veränderter Bewusstseinszustand. Ich kann ihn nur beschreiben als: „Ewigkeit Hier und Jetzt“.

Vorgeschichte

Mit meiner Frau, der Traumpsychologin Ann Faraday, hatte ich ein Jahr im Dschungel von Malaysia gearbeitet, um die Traumkultur des Senoi-Stammes zu erforschen. Nach einer Erholungspause am Strand im Osten Thailands nahmen wir einen Langstreckenbus zur Westküste. Bisher hatten wir überall großzügige Gastfreundschaft erfahren. Wir empfanden deshalb keinerlei Argwohn gegenüber dem freundlichen, gut gekleideten jungen Mann, der uns mit den Koffern half. Im überfüllten Bus bot er uns Schoko-Toffees an. Sie schmeckten zwar schimmlig, aber anstandshalber lutschte ich meinen Toffee bis zum buchstäblich bitteren Ende. Ann, weniger gehemmt, spukte ihren gleich aus. Das rettete uns das Leben. Wir wussten nämlich noch nichts von den Dieben, die Touristen mit präparierten Süßigkeiten betäubten und dann ausraubten. Und unser Dieb hatte eine Überdosis in seine Toffees injiziert.

Als er sah, dass Ann ihren Toffee ausgespuckt hatte, muss ihm deutlich geworden sein, dass sein Plan missglückt war. Beim nächsten Halt, der letzte Halt vor der großen Überlandstrecke, verließ er hastig den Bus. Ich begann gerade mich schläfrig zu fühlen. Als mein Kopf auf meine Brust fiel und ich zu sabbern begann, erkannte Ann, was passiert war. Zuerst dachte sie, dass man jetzt nichts anderes tun könne, als mich ausschlafen zu lassen. Nach einiger Zeit bemerkte sie jedoch erschreckt, dass meine Lippen blau wurden und ich keinen fühlbaren Puls mehr hatte. Unter großen Schwierigkeiten überzeugte sie den Fahrer, der mich für betrunken hielt, anzuhalten. Schließlich konnte sie mich per Anhalter zu einem Krankenhaus bringen. Dort sahen die Ärzte kaum noch Hoffnung, mein Leben zu retten. Trotzdem versuchten sie es. Erst sieben Stunden später zeigten sich Anzeichen, dass ich überleben würde. Es dauerte dann noch viele Stunden, bevor ich wieder zu Bewusstsein kam. Für einige Zeit danach war ich so beschäftigt, wieder in Kontakt mit der Welt zu kommen, dass ich an nichts anderes dachte. Erst als es Abend war und alle zu Bett gegangen waren, begann ich mich zu wundern, warum dieses ziemlich schäbige Krankenhauszimmer so ungewöhnlich schön erschien. Mein erster Gedanke war: „He, das ist der Grund, warum Leute von Morphium süchtig werden!“ Aber der zweite Gedanke sagte mir, dass inzwischen der Effekt der Schoko-Toffee-Droge abgebaut sein müsste. Außerdem hatte ich an der Erforschung psychedelischer Drogen teilgenommen und dabei eigene Erfahrungen u.a. mit LSD gemacht. Die jetzige Wahrnehmung des schäbigen Krankenhauszimmers war jedoch ganz anders. Sie war völlig ruhig, unverzerrt und trotzdem viel eindrucksvoller als alle Drogenerfahrungen. Ich begann mich zu fragen, ob ich während der Zeit, in der ich im Koma lag, so etwas wie eine Nah-Todes-Erfahrung gehabt hatte. Um das herauszufinden benutzte ich eine Technik, die Ann und ich als brauchbar herausgefunden haben, wenn wir beim Aufwachen merken, einen besonderen Traum gehabt zu haben, aber die Details vergessen haben.

Was hatte ich im Koma erlebt?

Ich entspannte mich im Liegen und ging vorstellungsmäßig in einer Serie kleiner Schritte zurück zum Zeitpunkt, an dem ich das Bewusstsein wiedererlangt hatte. „… hier bin ich, auf diesem Bett liegend, und jemand fragt, ob ich etwas essen möchte; hier bin ich gerade einen Moment vorher, und mir wird bewusst, dass jemand meinen Arm bewegt; hier bin ich, einen Moment vorher, mit meinen Augen geschlossen …“ Häufig bringt diese Technik den vergessenen Traum zurück. Was dieses Mal fließend zurückkam, war etwas ganz anderes: eine Erfahrung, die — ohne dass ich es bemerkt hatte — irgendwie die ganze Zeit gegenwärtig war, seit ich wieder zu Bewusstsein gekommen war. Es was als käme ich aus der tiefsten Dunkelheit, die ich jemals gekannt hatte, und die sich irgendwie immer noch genau hinter meinen Augen befand. Diese Dunkelheit war auf ihre Art strahlend, eine tiefe, blendende Dunkelheit, eine Art schwarze Sonne, eine fühlbare Abwesenheit von Licht.

Ich erinnere keine Zwischenschritte in diese Dunkelheit hinein. Das einzige, woran ich mich erinnere, ist, dass ich im Bus schläfrig wurde. Diese Dunkelheit war etwas ganz Vollständiges. Ich fühlte mich dort sicher, und ich wusste, dass alle Kämpfe des Lebens vorüber waren und ich nach Hause gekommen war zu einem Zustand jenseits aller Gefahr; ein Zustand, in dem ich nichts mehr brauchte oder wünschte, weil alles, was ich mir hätte wünschen können, bereits mein war. Diese leuchtende Dunkelheit schien alles zu umfassen, was jemals war oder existieren würde, allen Raum und alle Zeit, und trotzdem enthielt sie überhaupt nichts. Was ich erfuhr, war eine vollständig einfache Wesenheit ohne Trennungen — es schien mir wie die Essenz von Lebendigkeit vor dem Entstehen individueller Lebewesen. Obwohl die Erfahrung sorgenfrei war, eine äußerst friedvolle Schwarzheit, hatte sie nichts Lebloses; sie war vielmehr ein Frieden, welcher das Verstehen überschreitet, eine Freude jenseits von Freude.

Meine Erfahrung war nicht, irgendwohin zu gelangen. Ich fühlte statt dessen, dass alles irgendwie gegenwärtig geworden war, dass alles ins Bewusstsein gekommen war, ohne dass ein „Ich“ im Bewusstsein war. Das Selbst des John Wren-Lewis mit seiner persönlichen Geschichte hatte aufgehört. Nicht, dass ich mein früheres Leben vergessen hatte — aber ich fühlte, dass alle personenbezogenen Lebensgeschichten, die meine und die meiner Freunde und die aller Menschen die jemals gelebt hatten oder einmal leben würden, einfach nur Vorkommnisse im unendlichen Bewusstsein waren, welches jenseits von Lebensgeschichten ist, jenseits von Raum-Zeit-Begrenzungen. Ich glaube, wenn ich es gewollt hätte, hätte ich mein ganzes Leben Revue passieren lassen können. Ich hätte mit lang verstorbenen Verwandten sprechen können oder Engel, Erzengel und die ganze himmlische Gesellschaft begrüßen können. Aber in diesem leuchtenden Dunkel war kein Wunsch für derartige zusätzliche Erfahrungen, da ALLES schon gegenwärtig war. Was ich erfuhr, war genaugenommen die Auslöschung des individuellen Selbstes.

Nachwirkung der Erfahrung

Als ich mit der Traumerinnerungstechnik zurückschaltete, fand ich, dass die Dunkelheit immer noch da war, sozusagen im Hintergrund meines Bewusstseins, und dass sie die ganze Zeit da gewesen war, ohne dass ich meine Aufmerksamkeit dahin gelenkt hatte. Die erstaunlichste Sache ist, dass sie seitdem gegenwärtig geblieben ist, ebenso wie die Erfahrung, dass ich selbst wieder aus dieser strahlenden Dunkelheit ins Dasein komme, und zwar irgendwie auch als Antwort auf sie. Ich empfinde, als seien die geschaffenen Dinge einfach nur durch Strahlung göttlicher Schönheit zur Existenz gebracht und als sei meine Individualität wie eine Knospe, die sich als Antwort auf die schwarze Sonne öffnet, und paradoxerweise bin ich diese schwarze Sonne auch. Ich bin irgendwie Anfang und Ende des Schöpfungsprozesses. Ich fühle, als sei die Rückwand meines Kopfes abgesägt, so dass dort nicht mehr der 60-jährige John Wren-Lewis in die Welt schaut, sondern dieses leuchtende, dunkle Nichts, welches irgendwie auch mein Ich ist. Und was ich mit meinen Augen und anderen Sinnesorganen wahrnehme, ist eine ganze Welt, die jeden Moment aufs neue frisch hergestellt erscheint, wobei jeder Moment das reine Entzücken hervorruft der Art: „Siehe, es ist sehr gut.“

Einerseits fühle ich mich beim Erfahren der Welt unendlich weit weg, und gleichzeitig fühle ich das genaue Gegenteil, so als sei mein Bewusstsein überhaupt nicht mehr in meinem Kopf, sondern draußen in den Dingen, die ich erfahre. Häufig habe ich das Empfinden, wenn, sagen wir, ich einen Stuhl oder einen Baum wahrnehme, dass ich der Stuhl oder der Baum bin, der sich selbst erfährt.

Hinein und heraus

Ich muß hinzufügen, dass mein Bewusstseinszustand nicht immer so ist. Ständig treibe ich zurück in meine alte Art, mich selbst und die Welt zu erfahren. Zuerst, in Thailand, ertappte ich mich wieder und wieder bei dem Gedanken: „Oh, es ist vorbei“. Doch bald merkte ich, dass „vorbei“ das falsche Wort war. Plotin sagte: „Das Höchste ist immer bei uns, nur wir blicken es nicht immer an.“ Hätte mir vorher jemand gesagt, dass man ein derart erstaunliches und seliges Bewusstsein einfach übersehen könne, hätte ich es für unmöglich gehalten. Doch jetzt erfahre ich es als Tatsache. Ich vergesse einfach die leuchtende Dunkelheit und bin wieder der, der ich vorher war. Plötzlich halte ich inne und merke, dass etwas nicht stimmt, und dann kommt alles wieder — die leuchtende Dunkelheit und die Erfahrung, dass alles jeden Moment in glorreiche Existenz kommt: Jetzt! Und jetzt! Und jetzt! Mit jedem Moment eine neue Schöpfung.

Nachdem ich einige Wochen den Prozess des Sich-Entfernens von diesem Bewusstsein und des Wieder-darin-Eintauchens erlebte, begann ich mehr und mehr zu fühlen, dass dieses göttliche Bewusstsein eigentlich gar nicht ungewöhnlich war. Es ist wie nach Hause zu kommen. Unser so genanntes Normalbewusstsein hingegen erscheint mir zunehmend als der befremdliche Zustand, fern von wahrer Normalität und Wirklichkeit.

Neues Erleben von Freude und Leid

Dieses neue Bewusstsein hat mir eine subtile und doch radikale Einstellungsänderung dem Leben gegenüber gebracht, wofür der beste Ausdruck vielleicht „Verhaftungslosigkeit“ ist. Ich empfinde auch jetzt immer noch Genuss — tatsächlich mehr Genuss als früher — an gutem Essen, Wein oder guter Musik und anderen angenehmen Erfahrungen, aber ich bin nicht besonders besorgt darüber, ob ich die guten Sachen haben werde oder nicht. Die Dunkelheit im Hintergrund meines Bewusstseins gibt schon alle Befriedigung, die ich mir wünschen könnte. Sie ist die totale Befriedigung Moment für Moment, auch wenn das biologische Körper-und-Denk-System seine individuellen Ziele wie bisher verfolgt. Meine vielleicht größte Überraschung war die Entdeckung, dass das Entzücken von Moment auf Moment „Siehe, es ist alles gut“ nicht nur unbeeindruckt davon war, ob ich eine gute Sache, die ich wollte, bekam oder nicht, sondern auch unbeeindruckt blieb von Situationen, die ich früher als völlig deprimierend empfunden hätte, wie mein Krankenzimmer in Thailand, einen verregneten Tag oder eine starke Erkältung.

In den folgenden Wochen merkte ich, dass mich Kopfschmerzen oder Reisefieber tatsächlich vom neuen Bewusstsein ablenkten und mich zwangen abzuwarten, bis sie vorbei waren, bevor ich in dieses wieder eintauchen konnte. Dann, als ich mich damit abgefunden hatte, dass meine „Erleuchtung“ von sehr minderer Qualität sein müsse, bemerkte ich Veränderungen. Das Gefühl, an meinem Hinterkopf diesem Nichts gegenüber offen zu sein, schien sich ohne meine Beachtung die Wirbelsäule hinunter ausgebreitet zu haben. Ich fand, dass der Tinnitus (Ohrensausen), an dem ich seit einigen Jahren litt, sich von einem leichten Ärgernis zu einem positiv angenehmen Klang gewandelt hatte, den ich als alten Freund willkommen hieß, wann immer er sich in meine Aufmerksamkeit drängte. Dann kam meine erste Erkältung nach der Nah-Todes-Erfahrung. Es war eine überraschende Enthüllung bisher ungekannter Genussfähigkeiten, eine Freude an Empfindungen in Nase, Hals und Kopf, die ich bisher gehasst hatte.

Gleichzeitig bin ich mir bewusst wie eh und je, dass Tinnitus und Erkältung biologische Fehlfunktionen sind, und ich würde nicht zögern, ein Heilmittel dafür anzunehmen, selbst wenn ich sie im Moment-für-Moment-Bewusstsein gründlich genieße. Eine Wunde oder ein verletzter Körper erscheint mir weiterhin als Übel, das Heilung benötigt, aber gleichzeitig, aus der Perspektive des Ewigkeitsbewusstseins, als ein unglaublich glorreicher Tanz von Atomen oder Strudeln im Raum-Zeit-Kontinuum.

Ich weiß noch nicht, und weiß es vielleicht nie, wie man eine intellektuell befriedigende Antwort auf das uralte Problem des Bösen formulieren könnte, eine Antwort darauf, wieso eine Welt, die echtes Leid bedeutet, überhaupt einen Wert oder eine Berechtigung erfahren kann als Ausdruck der Seligkeit und des höchsten Gutes. Alles was ich weiß, ist, dass das überwältigende Gefühl in diesem neuen Bewusstsein, welches mir als das wirklich ursprünglich menschliche Bewusstsein erscheint, die immense Dankbarkeit für das Privileg ist, dazuzugehören. Und selbst das ist gegen die Logik, denn wenn ich DAS bin, dann ist niemand anderes da, dem ich danken könnte.

Wenn ich ein Stück Stoff zwischen uns halte, siehst du mich nicht mehr, obwohl ich noch genauso nah neben dir sitzte. Ebenso ist Gott dir näher als alles andere, aber aufgrund des Vorhangs des Egoismus siehst du ihn nicht. — Sri Ramakrishna