Der Bericht basiert hauptsächlich auf einem Artikel der Zeitung Le Monde von 21.12.2002
Im kleinen Ort La Couronne im Südwesten Frankreichs lebt Familie Bély. Es sind einfache Leute, an ihrem Häuschen steht das traditionelle „Gott segne dieses Haus und die hier gehen ein und aus“. Auf dem Rasen würde man Gartenzwerge erwarten, doch man findet dort moosüberwachsen die Nachbildung der Grotte von Lourdes mit einer Marienstatue.
Jean-Pierre Bély, der Familienvater, ist ein lebendiger, agiler 66-jähriger Rentner. Er war früher Krankenpfleger. 1972, er war 36, zeigten sich bei ihm die ersten Anzeichen der Krankheit: Kribbeln in Fingern und Füßen und zunehmende Müdigkeit. Die definitive Diagnose konnte erst 1984 gestellt werden: „sclérose en plaques“, zu deutsch: Multiple Sklerose. Eines Morgens in diesem Jahr erwachte er mit der rechten Körperhälfte völlig gelähmt. Er erinnerte sich: „Die drei folgenden Jahre waren die schlimmsten. Die Krankheit demoralisiert einen, weil sie in Schüben fortschreitet. Man glaubt, es wird besser, und plötzlich verschlimmert es sich. Schließlich waren meine Hände ganz verzerrt und gelähmt.“
Als Jean-Pierre Bély am 5. Oktober 1987 zur Pilgerfahrt nach Lourdes geschickt wird, ist er definitiv bettlägerig und als 100-prozent invalide anerkannt. In Lourdes verschlechtert sich sein Zustand. Seine Kameraden, die ihn begleiten, befürchten, dass er die Reise nicht überleben wird.
Er berichtet: „Ich hatte nicht speziell die Heilung gewünscht. Als ich zur Grotte gebracht wurde, habe ich zu Gott gesagt: Du kennst mich, du verstehst es, mir das Beste zu geben.
Als ich vor der Basilika auf der Krankenbahre lag und die Zeremonie der Salbung der Kranken durchgeführt wurde, war die Stimmung außergewöhnlich. Ich spürte, dass ich diesen Zeitraum ganz intensiv erlebte. Nachdem ich die Salbung erhielt, fühlte ich außergewöhnlichen Frieden, tiefe Freude und innere Ausgeglichenheit. Als wenn mir alles, was schlecht in meinem Leben gewesen war, genommen wäre. Mein Stress, meine Angst, meine Sorgen. Ich war euphorisch, von der Welt abgetrennt. Mir war, als würde ich schweben. Ich war woanders. Mein Körper zählte nicht mehr. Ich kann sagen, dass ich erst die Heilung des Herzens empfangen habe, vor der Heilung des Körpers. Dieser Friede, diese innere Ruhe haben mich seitdem nicht mehr verlassen. Und jeden Tag fühlt es sich so an, als würde ich diesen Moment wieder erleben.
Die Krankenträger brachten mich dann in mein Zimmer zurück. Als man mich aufs Bett legte, habe ich wieder Kontakt zu meinem Körper bekommen. Ich weiß nicht, wie lange das gedauert hat. Ich hatte keine Zeitempfindung. Ich spürte eine Kälte. Keine äußere Kälte, sondern das Gefühl in einen kalten Abgrund zu rutschen. Ich fühlte, dass ich fortgehe. Das war kein angenehmes Gefühl. Vielleicht würde ich ins Jenseits kippen. Und dann, plötzlich, spürte ich eine Wärme in den Zehen. Wie ein weit entferntes Licht, das größer wird, wärmt und Leben gibt. Die Wärme stieg langsam in meine Füße, meine Beine, meine Muskeln, in meinen ganzen Körper. Während sie sich ausbreitete war es, als wenn das Leben zurückkehrte. Ich hatte das Gefühl, als hätte mich jemand beim Genick gepackt und aus dem kalten Abgrund gezogen. All das muss sehr schnell passiert sein, aber ich hatte kein Zeitempfinden. Schließlich fühlte ich mich wie angehoben und fand mich sitzend auf der Bettkante wieder, mich wundernd, was ich da mache.
Abends brachte man mich auf meiner Bahre zur Schlusszeremonie der Pilgerfahrt. Dort wurde ich von dem unwiderstehlichen Verlangen gepackt, aufzustehen und herumzugehen. Aber als ich um mich herum all die anderen bettlägerigen Kranken sah, bekam ich Angst, sie zu schockieren. In diesem Augenblick entschloss ich mich, diskret zu bleiben. In der folgenden Nacht wurde ich getrieben, mich zu erheben. Ich spürte in meinem ganzen Wesen, wie mächtige Worte mir sagten: »Los, erhebe dich und gehe!« Wie eine innere Stimme, die sich ganz zart äußert. Als die Nachtschwester sah, dass ich mich im Bett umdrehte, fragte sie mich, was ich hätte. Ich sagte ihr, dass ich aufstehen wollte, um zur Toilette zu gehen. Und ich bin zum ersten Mal gegangen. Sie hielt mich einfach am Arm. Ich machte meine ersten Schritte nachts, wie ein Baby, das Laufen lernt. So fühlte es sich für mich an.
Ich wollte mich nicht beim medizinischen Büro in Lourdes melden. Ich wollte die Sache nicht aufbauschen. Nach der Rückreise wartete ich im Rollstuhl am Bahnhof auf meine Frau. Im Auto, das uns nach Hause brachte, erklärte ich ihr, dass sich mein Zustand gebessert habe. Als sie dann sah, dass ich die Treppe hinaufstieg, verstand sie ...“
Jean-Pierre Bély erinnert sich mit Humor an die Erschütterungen, die er in seiner Umgebung hervorgerufen hat. Sein Hausarzt wurde beinahe ohnmächtig, als er ihn aufsuchte. Und der Briefträger erklärte gegenüber der Ortspresse: „Jetzt sehe ich mich gezwungen, an den lieben Gott zu glauben.“
Übrigens bekommt Jean-Pierre Bély bis zum Lebensende seine Invalidenrente, da es nicht vorgesehen ist, dass sich ein 100-prozentiger Invalide jemals wieder erholt.
Bély wurde 1999 vom medizinischen Büro zu Lourdes offiziell als Geheilter anerkannt.