Etty Hillesum: Licht im Vorhof der Hölle

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Etty Hillesum

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Noch einmal Etty

Julius_Spier.jpg, 10kB Julius Spier, ihr spiritueller Mentor

Etty Hillesum

1914 wurde Etty Hillesum in einer jüdischen Familie in den Niederlanden geboren. Sie war sehr begabt und studierte später Slawistik und Psychologie. Ihr Wunsch war es, Schriftstellerin zu werden. 1941 traf sie den aus Deutschland geflohenen jüdische Chiropsychologen Julius Spier, der ihr spiritueller Lehrer wurde. Auf Anraten von Spier begann Etty mit dem Schreiben eines Tagebuchs. Die ersten Sätze lauten:

Na dann los! Dies ist ein peinlicher und kaum zu überwältigender Augenblick für mich: mein gehemmtes Inneres auf einem unschuldigen Blatt linierten Papier preiszugeben …

Ettys Tagebuch ist das Dokument einer inneren Entwicklung. Es geht auf und ab und in kleinen Schritten voran:

17. Juni 1942:
Es scheinen solche Kleinigkeiten, aber es kostet erst mal ein Stück Kampf und Selbsterziehung, bevor Dinge aus der Theorie durch Disziplin und Konkretisierung in den Alltag übergehen. Zum Beispiel abends rechtzeitig und ohne zu viel Widersinn vom Tag Abschied nehmen und nicht noch stundenlang durch irgendwelche Bücher blättern oder durchs Haus laufen aus reiner Unruhe und Unzufriedenheit mit der Tagesleistung. Früher war das oft so. Dann erwartete ich am letzten Moment noch ein Wunder, dass den Tag zu etwas Besonderem machen würde. Ein P.S., in dem alles stehen würde, was dem Tag selbst fehlte. Nun ist das nicht mehr so stark, nur noch ab und zu. Früher waren für mich die Übergänge viel abrupter, vom Tag zur Nacht, von der Arbeit zum Nichtstun, vom Alleinsein zum Zusammensein mit anderen, das ging alles ruckartig. Nun gleitet alles eher ineinander über, weil ein innerer Rhythmus entstanden ist, der der meine und nur der meine ist.

Es scheint vielleicht übertrieben, doch es ist so: um rechtzeitig ins Bett zu gehen, um freiwillig den Tag loszulassen, ist ein Stück Disziplin nötig. Man muss sich das erst einmal klar bewusst machen, damit es später ganz von selbst geht und zum eigenen Lebensrhythmus gehört.

Ettys Tagebuch und einige ihrer Briefe überlebten den Krieg. Die Nachkriegszeit hatte allerdings kein Interesse daran. Erst 40 Jahre später erschien eine erste Auswahl, 1986 folgte die Gesamtausgabe (1). Auf deutsch erschien ein Auszug unter dem Titel „Das denkende Herz. Die Tagebücher von Etty Hillesum 1941-1943“ als Rowohlt Taschenbuch (2).

Julius Spier

Spier (1887-1942), ein von C. G. Jung ausgebildeter Psychoanalytiker, hatte ein ungewöhnliches Talents für das Handlesen. Eine Vermutung niederländischer Psychologen ist, dass er unbewusst paranormale Fähigkeiten in das Handlesen einfließen ließ (3). Jung jedenfalls war von Spiers Kunst verblüfft und ermutigte ihn, diese Fähigkeit professionell auszuüben. Spier eröffnete daraufhin in Berlin eine chirologische Praxis und erwarbt sich rasch einen Ruf als ungewöhnliche, „magische“ Persönlichkeit (4). 1938 floh er nach nach Amsterdam und betrieb auch dort eine Beratungspraxis, bis er 1942, kurz vor seiner Deportation nach Auschwitz, an Lungenkrebs starb. Sein posthum 1944 in London erschienenes Buch „The Hands of Children“, mit Vorwort von C. G. Jung, zählt immer noch zu den Klassikern der Handlesekunst. Seine Berliner Verlobte Herta Levi hatte sich von Deutschland aus nach London absetzen können und hatte dort Übersetzung und Publikation des Werkes betreut.

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Heutiger Zustand der Bahnstrecke im ehem. Lager Westerborg

Das Durchgangslager Westerborg genannt
„Vorhof der Hölle“

Als die Nazis begannen niederländische und geflohene deutsche Juden in das Durchgangslager Westerborg in der nur dünn besiedelten Heidelandschaft der Provinz Drente zu deportieren, versuchte die Hilfsorganisation "Jüdischer Rat" das Los der Juden etwas zu mildern. Etty meldete sich freiwillig und hatte so Zugang zum Lager. Schließlich wurde aber klar, dass diese Hilfsorganisation von den Nazis missbraucht wurde.

In Ettys Tagebuch findet sich folgernder Eintrag über ihre Erfahrung des Lagers:

Das Leben und das Sterben, das Leid und die Freude, die Blasen an meinen wundgelaufenen Füßen und der Jasmin hinterm Haus, die Verfolgungen, die zahllosen Grausamkeiten, all das ist in mir wie ein einziges starkes Ganzes, und ich nehme alles als ein Ganzes hin und beginne immer mehr zu begreifen, nur für mich selbst, ohne es bislang jemandem erklären zu können, wie alles zusammenhängt.

Im Juni 1943 wurde ihre eigene Familie in das Durchgangslager Westerborg deportiert, und auch sie verlor das Privileg, das Lager wieder verlassen zu können. Sie konnte jedoch noch einige Briefe an Freunde schreiben. In diesen Briefen gibt sie eine genaue Beschreibung der Zustände im Lager, der Rivalitäten unter den Lagerinsassen, der Blasiertheit des Lagerleiters und den alltäglichen Grausamkeiten:

Der Mensch ist etwas Seltsames. Das Elend, das hier herrscht, ist wirklich unbeschreiblich. Wir hausen in den großen Baracken wie Ratten in einem Abwasserkanal. …

Ettys spirituelle Erfahrung

In einem ihrer letzten Briefe an eine Freundin beschreibt sie ihr inneres Erleben:

… Heute Nachmittag ruhte ich mich auf meiner Pritsche aus und musste plötzlich Folgendes in mein Tagebuch schreiben, ich schicke es dir:

Du hast mich so reich gemacht, mein Gott, lass mich auch mit vollen Händen davon austeilen. Mein Leben ist zu einem ununterbrochenen Zwiegespräch mit dir, mein Gott, geworden, zu einem einzigen großen Zwiegespräch. Wenn ich in einer Ecke des Lagers stehe, die Füße auf deiner Erde, das Gesicht zu deinem Himmel erhoben, dann laufen mir manchmal die Tränen über das Gesicht, entsprungen aus einer inneren Bewegtheit und Dankbarkeit, die nach einem Ausweg sucht. Auch abends, wenn ich im Bett liege und in dir ruhe, mein Gott, rinnen mir manchmal die Tränen der Dankbarkeit übers Gesicht, und das ist mein Gebet.

Ich bin sehr müde, schon seit einigen Tagen, aber auch das wird wieder vorbeigehen, alles verläuft nach einem eigenen, tieferen Rhythmus, und man müsste die Menschen lehren, auf diesen Rhythmus zu horchen, es ist das Wichtigste, was ein Mensch in diesem Leben zu lernen hat.

… maar ik kom altijd weer direct terecht bij een en hetzelfde woord: God, en dat omvat alles en dan hoef ik al het andere niet meer te zeggen.

Ich kämpfe nicht gegen dich, mein Gott, mein Leben ist ein großes Zweigespräch mit dir. Vielleicht werde ich nie eine große Schriftstellerin, wie ich es eigentlich vorhabe, aber ich fühle mich tief in dir geborgen, mein Gott. Ich möchte zwar manchmal kleine Weisheiten und vibrierende kleine Geschichten in Worte prägen, aber ich komme immer wieder genau auf ein und dasselbe Wort zurück: Gott, darin ist alles enthalten, und dann brauche ich all das andere nicht mehr zu sagen. Und meine ganze schöpferische Kraft setzt sich um in die inneren Zwiegespräche mit dir, der Wellenschlag meines Herzens ist hier breiter und zugleich bewegter und ruhiger geworden, und mir ist, als würde mein innerer Reichtum immer größer. …

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Zuglaufschild Westerborg-Auschwitz, bewahrt in der
Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem, Israel

Am 7. September 1943 wurden die Hillesums in Viehwagen nach Auschwitz abtransportiert, wo sie kurz darauf vergast wurden.

Quellen:

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  1. De nagelaten geschriften van Etty Hillesum. Hrg. v. Klaas Smelik. Uitgeverij Balans 1986, Amsterdam
  2. Das denkende Herz. Die Tagebücher von Etty Hillesum 1941-1943. Übersetzt von Maria Csolláni. 1983 bei F. H. Kerle, Freiburg und ab 1985 bei Rowohlt, Reinbeck. [Die im vorliegenden Artikel wiedergegebenen Übersetzungen stammen zum Teil aus dem Rowohlt-Buch, zum Teil, wie der Eintrag von 17.6.42, der nicht im Rowohlt-Buch enthalten ist, vom Artikelautor.]
  3. A. Nagel, 'Julius Spier, chiromanticus of chiroloog?', Tijdschrift voor Parapsychogologie en Bewustzijnsonderzoek (2008) nr. 2, 19-24
  4. Weiteres zu Spier: www.handundhoroskop.de (Seite nach unten scrollen)