Nach Anfangsschwierigkeiten wurde die Naikan-Methode in Japan einem größeren Publikum bekanntgemacht.
Inzwischen ist Naikan dort wieder etwas in Vergessenheit geraten. Yoshimotos ehemaliges Naikan-Zentrum beherbergt heute Psychotherapie-Praxen und seine Nachkommen sind an der Methode nicht interessiert.
Sein Schüler Nagashima betreibt aber ein eigenes Naikan-Zentrum ganz nach dem Vorbild des Original. Es gibt außerdem zahlreiche Anhänger, die die Methode in etwas veränderter Form anbieten.
Für unterschiedlichste Personenkreise hat sich Naikan als Hilfe bewährt, um zu einer „größeren Sichtweise“ im weitesten Sinn zu gelangen. Inzwischen gibt es im deutschen Sprachraum einige Institute, an denen man sich in die Methode einüben kann.
Die Entwicklung der Naikan-Methode, das Leben ihres Begründers und ihre religiösen Wurzeln werden im Folgenden vorgestellt.
Die Naikan wird als frei von einem bestimmten religiösen Bezug angeboten. Die Wurzeln der Methode reichen aber zurück bis zum frühen Buddhismus.
Die ursprüngliche Lehre des Buddha (ca. 500 v. Chr.) ist als asketisch-mönchischer Weg überliefert, um durch die Kraft der Selbstbemeisterung zum spirituellen Erwachen und Nirvâna zu gelangen. Dieser Weg hat offensichtlich manche der Laienanhänger des Buddha überfordert. Sie hofften wahrscheinlich, vor allem durch die Gnadenkraft des Buddha zum Nirvana zu gelangen.
Nach den Sukhâvatî-vyûha-Sûtren (die allerdings erst im 1. Jhd. n. Chr aufgeschrieben wurden) bestätigte Buddha persönlich, dass man auch allein durch Hingabe zu einem Buddha zum Nirvâna gebracht würde. Gleichzeitig sagte er, dass die Verehrer sich dazu nicht an ihn, sondern an einen früheren Buddha namens Amitâbha wenden sollten, der diese Aufgabe übernommen hätte.
„Amitâbha“ bedeutet unermesslicher Glanz oder unermessliches Licht. Diesen „früheren Buddha“ könnte man auch als eine Art kosmischer Instanz oder Seinsebene ansehen, mit einer gewissen Ähnlichkeit zu heutigen Berichten von Nahtodeserlebnissen.
Seit Raymond Moodys Buch Life After Life (1975) wurden Berichte von Nahtodeserlebnissen zunehmend ernster genommen und weltweit wissenschaftlich erforscht. Die Berichte enthalten kulturunabhängig in vielen Fällen die Beschreibung einer Art unermesslichen Lichts, in das die Person aufsteigt oder hineingezogen wird (15). Wenn jemand in einer Nahtodeserfahrung von solchen Lichterlebnissen berichtet, zeigen sich anschließend typische tiefgreifende Persönlichkeitsänderungen. Bisherige Bezugsrahmen und Werteskala verlieren ihre Gültigkeit. Die Änderungen, die sich manchmal über mehrere Jahre hinziehen, laufen im Wesentlichen darauf hinaus, dass diese Personen die Angst vorm Tod sowie die Angst vorm Leben verlieren, einen neuen Sinn im Leben finden, Kooperation und Mitgefühl als wichtig erachten und Konkurrenzkampf und materielle Güter als unwichtig. Die Nahtodeserfahrung erleben sie als Umkehrpunkt zu einem neuen sinnerfüllteren Leben.
Bei der Amitâbha-Verehrung ist das Leitmotiv bis heute ebenfalls Läuterung durch Auseinandersetzung mit dem Tod. Die Amitâbha-Meditation könnte ursprünglich also durchaus eine Methode gewesen sein, die eine Erfahrung hervorzurufen versuchte, die der Lichterfahrung des Nahtodeserlebnisses und seiner läuternden Wirkung entsprach. Diese Amitâbha-Meditation kann man als älteste Wurzel der Naikan-Methode ansehen.
Die Amitâbha-Verehrung breitete sich mit dem Mahâyâna-Buddhismus nach China und Japan aus und fand vor allem bei Laien Anklang. In den Schriften der Amitâbha-Schule heißt es, dass Amitâbha ein reines Land im Westen namens Sukhâvatî (gekennzeichnet durch Sukhâ, d.h. Bemühen um zukünftige Seligkeit) erschaffen habe. Um nach dem irdischen Leben in diesem reinen Land wiedergeboren zu werden, brauche man nur den Namen des Amitâbha Buddhas gehört zu haben und ihn einige Nächte mit „ungestörten Gedanken im Geiste gehalten“ zu haben (Kürzeres Sukhâvatî-Vyûha-Sûtra 3:11). Wer einmal in diesem Land geboren sei, dem werde Amitâbha nach gegebener Zeit den Eintritt ins Nirvâna ermöglichen. Die Beschreibungen dieses sagenhaften Landes waren voll farbenfroher Details. Diese Schule wurde unter dem Namen Reines-Land-Buddhismus oder Amida-Buddhismus (Amida ist japanisch für Amitâbha) bekannt. Es gab naturgemäß einen Auffassungsunterschied zu den mehr traditionell asketisch ausgerichteten Mahâyâna-Schulen, in denen die eigene Anstrengung betont wurde.
Nachdem der Buddhismus in China zur Blüte kam und eigene Lehrmeinungen entwickelte, wurden einige seiner Richtungen durch dort ausgebildete Japaner nach Japan gebracht. Zu diesen Japanern gehörte der Mönch Saichô, der nach seiner Rückkehr nach Japan im Jahr 805 die Tendai-Schule auf dem Berg Hiei nahe Kyoto gründete. Durch die Unterstützung der kaiserlichen Familie, die Kyoto zur Hauptstadt gemacht hatte, entwickelte sich Tendai innerhalb weniger Jahrhunderte zur bedeutendsten buddhistischen Lehrmeinung in Japan. Auf der Höhe ihrer Macht verfügte die Schule über etwa 3000 Tempel auf dem Berg samt einer eigenen Armee von Kriegermönchen. Doch 1571 wurden alle Gebäude durch Krieg zerstört und die meisten Mönche getötet. Erst gegen 1700 konnten einige Gebäude wieder aufgebaut werden, ihren alten Glanz hat die Tendai-Schule jedoch nicht wiedererlangen können.
Die Tendai-Anhänger zeichneten sich von Anfang an durch asketischen Eifer zur Erlangung spiritueller Erfahrungen aus. Sie hatten dabei eine Vorliebe für esoterische, geheime und „besondere“ Methoden. 831 führte beispielsweise einer von ihnen die 7 Jahre dauernde Übung Kaihôgyô ein (13), die im Wesentlichen aus Meditieren und Pilgern besteht. Die zurückzulegenden Pilgerpfade führen durch den Wald um den Berg Hiei herum, entlang verschiedener Schreine, an denen geheime Mantras zu rezitieren sind. Das Pilgern geschieht dabei in Blöcken zu 100 Tagen mit einem festen Wegepensum, zuerst ca. 40 km täglich. Über 7 Jahre verteilt gibt es insgesamt 1000 Pilgertage, wobei das Pilgerpensum stufenweise erhöht wird. Im letzten Hunderttage-Block sind täglich 84 km zurückzulegen. Die Mönche beginnen mit ihrer Route in den frühen Morgenstunden der Nacht und tragen Kurzschwert und Strick. Falls sie aus irgendeinem Grund das Pilgerziel an einem Tag verfehlen, selbst wenn es nicht ihre Schuld ist, müssen sie sich das Leben nehmen, entweder mit dem Schwert oder dem Strick (14).
Ihre geheimste, mächtigste und gefährlichste Technik ist allerdings das Do-iri, das im fünften Jahr des Kaihôgyo ansteht. Do-iri versucht, künstlich ein Nahtoderlebnis hervorzurufen. Der Übende muss dazu tagelang ohne zu Essen, zu Trinken und zu Schlafen in Meditation zubringen. Die Übung wird in einem Tempel durchgeführt und zwei Helfer sind ständig neben dem Übenden. Sie achten darauf, dass er bei seiner Meditationsübung bleibt und nicht einschläft. Die Tendai-Mönche stellten fest, dass bei zehntägiger Übungsdauer gewöhnlich der Tod eintritt, und legten deshalb die Übungsdauer auf sieben bis neun Tage fest. Das Do-iri erinnert an die Entschlossenheit des Buddha, der sich bei seiner entscheidenden Meditation vornahm, nicht aufzustehen, bevor er nicht das spirituelle Erwachen erlangt hätte.
1181 bat der neunjährige Adlige Shinran, der früh seine Eltern verloren hatte, um Aufnahme als Tendai-Mönch am Berg Hiei. Zwanzig Jahre lang übte er dort fleißig, wurde als das „Wunderkind vom Berge Hiei“ (16) bekannt und erlangte eine hohe Position im Orden. Doch innerlich war er frustriert und hatte keineswegs das Gefühl, erleuchtet zu sein. Damit war er nicht der erste, 26 Jahre vor ihm war es einem gewissen Hônen genauso ergangen, der dann den Orden verlassen hatte und zur Verehrung des Amida übergegangen war. 1201 trat Shinran aus dem Orden aus und wurde Schüler des Hônen, was ziemliches Aufsehen erregte. Unter Hônens Leitung erlangte Shinran die ersehnte spirituelle Erfahrung. Doch wegen der wachsenden Popularität dieser abweichenden Lehrmeinung führte die Tendai-Schule einen Prozess gegen Hônen und Shinran, wodurch es 1207 zur Verbannung der beiden in verschiedene entlegene Landesteile kam. Shinran sah seinen Meister nie wieder. In der Verbannung brach er ganz mit dem Mönchstum, heiratete, wurde Vater von sechs Kindern und teilte das Los der einfachen Bevölkerung. Dabei entwickelte er seine Auffassung zu einer neuen Schule weiter, die als Jôdo-Shinshû, die „wahre Schule des Reinen Landes“, bekannt wurde.
Hauptpunkt von Shinrans Lehre ist die Unterscheidung der beiden Kräfte Jiri-Ki (die eigene Kraft) und Tari-Ki (die andere Kraft). Die Praktiken der Tendai-Mönche zielten nach Shinrans Auffassung darauf ab, aus eigener Kraft das Nirvâna zu erreichen. Seiner Meinung nach ein Ding der Unmöglichkeit. Letztlich würden diese Praktiken nur das Ego nähren sowie die Idee, etwas Besseres und Besonderes zu sein. Nach Shinrans Auffassung hatte sich die menschliche Verfassung seit Buddhas Geburt so verändert, dass es nicht mehr möglich war, aus eigener Kraft zum Nirvâna zu gelangen. Zum Nirvâna könne man nur noch durch die „andere Kraft“ gelangen, d.h. durch die Kraft, die der Amida-Buddha allen Wesen aus Mitgefühl zur Verfügung stelle.
Die Hilfe durch diese andere Kraft sei aber ein Gnadengeschenk. Dieses Geschenk könne durch keinerlei Handlung hervorgerufen werden, es sei kein Ergebnis von Ursache und Wirkung. Es könne auch nicht durch noch so viele asketische Übungen erzwungen werden. Doch wo Glaube und Vertrauen anwesend seien, beginne diese Kraft spontan zu wirken.
Shinran empfahl das hingebungsvolle Anrufen des Namens des Amida-Buddhas (Nembutsu). Jedoch komme es seiner Meinung nicht darauf an, wie häufig man den Namen ausspreche. Es komme nur auf das eine Mal an, bei dem man erkenne, dass nicht der Mensch den Amida anrufe, sondern der Amida den Menschen. Dann würde man von der „anderen Kraft“ des Amida ergriffen und es würde einem ein neues Leben geschenkt. Dadurch lebe man bereits auf Erden im Reinen Land und wirke hier für das Wohl aller Wesen. Das Konzept des Reinen Landes interpretierte Shinran neu als spirituelle Lebensweise, die bereits in diesem Leben möglich sei.
Eine Voraussetzung für den Eintritt in das reine Land sei allerdings die Auseinandersetzung mit „bonnô“, sanskrit: klesha, d.h. „Schmerz, Angst und Wut durch Weltlichkeit“. Bonnô bezeichnet die bewussten und unbewussten Kräfte, die Gedanken, Gefühle oder Handlungen hervorrufen, die Unwohlsein, Frustration, Leid und Kummer für andere und einen selbst erzeugen, – geistig, gefühlsmäßig, spirituell und körperlich. (2)
Bonnô ist also die Schattenseite unserer Existenz. Indem man sich dem eigenen bonnô stellt, kommt Reue. Das Ego schämt sich und tritt zur Seite, so dass die „andere Kraft“ wirken kann, die stets darauf wartet, einem die Gnade des Reinen Landes zu schenken.
Jôdo-Shinshû begann als Bewegung in den untersten Schichten der Bevölkerung; es war und ist eine reine Laienbewegung, die heute von verheirateten Priestern betreut wird. Shinran wird manchmal „der japanische Luther“ genannt. Der evangelische Theologe Karl Barth beurteilte Jôdo-Shinshû als engste „heidnische“ Parallele zum evangelischen Christentum (3).
Shinrans Lehre zeichnet sich dadurch aus, dass es gerade keine spezielle Methode gibt, kein geheimes Wissen, keine magischen Praktiken, sondern nur die reine Hingabe. Das war wohl etwas mager für diejenigen, die gerne etwas Besonderes sein wollten. Und zu denen gehörte leider Shinrans eigener Sohn Zenran. Er betätigte sich als Missionar des Jodu-Shinshû in einem anderen Landesteil und verkündete schließlich, sein Vater hätte ihm eines Nachts eine ganz geheime Extralehre anvertraut. Shinran selbst zeigte sich schockiert als er davon hörte und schloss diesen Sohn aus Familie und religiöser Gemeinschaft aus. Für ihn war es wichtig, keine Geheimnisse in der Hinterhand zu halten.
Trotzdem war einigen seiner Anhänger die hingebungsvollen Anrufung des Amida-Namens nicht genug, und sie übernahmen die Do-iri-Übung der Tendai-Schule unter dem Namen Mishirabe, „Selbstergründung“. Die Übungsdauer von sieben bis neun Tagen blieb unverändert, ebenso der Verzicht auf Essen, Trinken und Schlafen sowie auch die ständige Betreuung, jetzt aber durch einem Jodo-Shinshû-Priester. Die Meditation, die während des Mishirabe durchzuführen war, wurde der Jodu-Shinshû-Lehre angepasst. Der Übende hatte sich zu fragen: „Wohin gehe ich, wenn ich jetzt sterbe?“
Diese Frage zielte auf die Grundfrage des Jodu-Shinshû ab: „Gehe ich, wenn ich jetzt sterbe, in Amidas Reines Land oder nicht? Erhalte ich seine Gnade? Bin ich also gerettet, oder nicht?“ Aus dem Alltagsbewusstsein heraus war eine Beantwortung nicht möglich. Um eine echte Antwort zu erhalten, musste man entweder tatsächlich sterben oder aber ein spirituelles Erlebnis haben, dass einer Nahtodeserfahrung vergleichbar wäre. Und dazu schien das Do-iri alias Mishirabe sehr geeignet. Die Methode muss zumindest ab und zu funktioniert haben, denn sonst wäre sie nicht über die Jahrhunderte im Jodu-Shinshû weitergegeben worden, obwohl sie im Gegensatz zu Shinrans Lehre stand und von der Mehrheit der Jodu-Shinshû-Anhänger abgelehnt wurde.
Ishin Yoshimoto wurde 1916 geboren in einem Vorort von Nara, Japans alter Hauptstadt. Er war das dritte von schließlich fünf Kindern in der Familie eines angesehenen Düngemittelhändlers und Stadtverordneten. Die Familie gehörte dem Jôdo-Shinshû an. Ein einschneidendes Familienereignis war der Tod von Ishins jüngerer Schwester. Danach wandte sich Ishins Mutter stark der Religion zu und besuchte mit ihren Kindern häufig Tempel. Ishins Kindheit war religiös geprägt. (1, Maeshiro 2007)
In der Schule zeigte Ishin, außer in Sport, sehr gute Leistungen. Seine besondere Begabung war die Kalligrafie, eine Kunst, die er sein Leben lang ausübte. Der Name Ishin ist übrigens nicht sein bürgerlicher Vorname sondern der Künstlername, den er sich als Kalligraph selbst gab (1, Maeshiro 2007). Während seines Studiums am Berufs-College verliebte er sich in seine zukünftige Frau Kinuko. Er fragte sich: „Was könnte ich tun, um von ihr geliebt zu werden?“ Er wollte sie beeindrucken, und er wollte auch die von seiner Religion versprochene Errettung und Gnade erfahren. Deshalb wählte er die umstrittene Methode Mishirabe.
Im Frühjahr 1936 unterzog sich Ishin als 20-jähriger zu ersten Mal der Übung. „Es war, als hätte mir jemand den Stuhl weggezogen.“ erinnerte er sich später. Er erkannte, dass sein Verhalten noch voller Stolz war und seine Selbstsergründungs-Frage oberflächlich blieb. Nach vier Tagen brach er die Übung mit dem Gedanken ab: „Ich bin kein echter Übender. Wenn ich noch eine Stunde bleibe, lüge ich die Leute an.“ (4, Schuh 1998)
Im darauf folgenden Herbst versuchte er es aufs Neue. Vorher schrieb er sein Testament und legte es zu Hause auf den Tisch seines Zimmers. Diesmal brach er nach fünf Tagen ab.
Den dritten Versuch wollte er im Folgejahr machen. Doch der Priester wies ihn ab: „Du darfst nicht mehr kommen. Wenn du gerettet werden willst, geh auf den Berg hinter dem Kasua-Schrein und hör auf die Stimme des Felsens. Anders kannst du nicht gerettet werden. Lüge dich nicht mehr selbst an!“
Ishin schrieb einen Abschiedsbrief an seine Mutter und begab sich auf den Berg, wo er aus seiner Kindheit eine Höhle kannte. Er konnte sie jedoch nicht mehr finden und begann seine Übung im Freien. Er fühlte sich unter dem Schutz des Amida-Buddhas und ihm kamen sofort die Tränen. Um Mitternacht gab ihm das Geräusch eines Zuges die Erkenntnis, dass es keinen Platz auf der Welt ohne Geräusch gibt. Am nächsten Tag führte ihn ein Junge zu seiner Höhle. Dort übte er weiter. Merkwürdigerweise weckte ihn immer irgendein Tier, wenn er in Gefahr geriet einzuschlafen, und er bedankte sich dafür. Trotzdem überwältigte ihn am siebten Tag der Gedanke: „Egal, wie lange ich weitermache, ich schaffe es nicht!“ Damit brach er die Übung ab. Der Leser möge trotzdem bedenken, welch großes Verlangen ihn getrieben haben muss, um sieben Tage lang ohne Essen, Trinken, Schlafen und ohne Betreuung nur der Frage nachzugehen, „Wohin gehe ich, wenn ich jetzt sterbe.“
Als er wieder zu Hause erschien, weinte sein Vater und bat ihn, so etwas nicht noch einmal zu unternehmen. Ishin war tief berührt und entschuldigte sich bei seinem Vater. Und doch wollte er das Mishirabe wiederholen.
Inzwischen war auch Kinuko vom Mishirabe-Fieber angesteckt. Sie hatte später als Ishin begonnen, aber im März 1937 gelang ihr damit der Durchbruch zu einer spirituellen Erfahrung.
Bei Ishin allerdings forderte der Priester jetzt, dass sein Vater mit weiteren Mishirabe-Übungen einverstanden sein müsse. Das war eine wohlbedachte Vorgabe, denn als Ishin das Thema bei seinem Vater ansprach, drohte dieser, den Priester zu verklagen. Ishin war nämlich nach der damaligen Gesetzeslage noch nicht volljährig. Sein Vorhaben schien aussichtslos, er war verzweifelt. Nur sein Kalligraphie-Lehrer zeigte Verständnis und riet ihm, schnell zu heiraten, wodurch er nach dem Gesetz volljährig werden würde.
Kinuko und Ishin heirateten im Mai 1937, und im November unterzog sich Ishin seinem vierten Mishirabe-Versuch.
Bei diesem vierten Versuch wurde er zuerst von tropfendem Wasser irgendwo im Übungshaus gestört, doch dann zeigte sich ihm das innere Bild, wie der Tropfen schließlich zum Meer gelangt, dort als Wasserdampf aufsteigt, als Regen im Gebirge wieder herunterkommt und so erst nach äußerst langer Zeit wieder zu seinem Ausgangspunkt zurückkehrt. Er verglich sich selbst mit diesem Tropfen. Wenn er jetzt die Wahrheit nicht finden würde, fühlte er, hätte er erst nach endlos langer Zeit wieder eine Chance. Nach fünf Tagen war er körperlich völlig geschwächt. Als er zur Toilette musste, konnte er dorthin nur noch auf einen Helfer gestützt gehen. Ihn überwältigte die Überzeugung: „ Auch wenn alle Menschen gerettet werden, ich kann nicht gerettet werden, so schlecht bin ich.“ (11) Plötzlich war ihm egal, was mit ihm passieren würde, in seinem Geist bestand nur noch das Verlangen, dass alle Menschen gerettet werden sollten, selbst wenn er nie gerettet werden würde. Das war der Durchbruch, sein Ego hatte aufgegeben. Er spürte eine unsagbare Freude; er hatte „echtes Vertrauen“ gefunden. Der Priester und andere merkten, dass er es geschafft hatte.
Ishin berichtete später:
„Sieben oder acht Personen kamen und wir haben zusammen gefeiert. Ein langer Traum ging in Erfüllung. Ich bekam ein neues Leben voller Freude.“ (4, Schuh 1998)
Ishin Yoshimoto war von dem Wunsch erfüllt, möglichst vielen Menschen ebenfalls diese Freude zu ermöglichen. Doch bald bemerkte er einige gravierende Nachteile der klassischen Mishirabe-Übung: Viele Suchende verleitet Mishirabe zu einem schematischen Vorgehen: Äußerlichkeiten in der Übungsdurchführung werden immer wichtiger, und die aufkommende Zweckgerichtetheit verhindert gerade die spirituelle Erfahrung, die immer spontan ist (5, Nagashima 1994). Für andere wird es gar zu einer sportlichen Übung. Und sogar diejenigen, die durch Mishirabe eine spirituelle Einsicht erlangen, haben häufig Schwierigkeiten, weil sie ihr Erlebnis nicht ins Alltagsleben integrieren können (4, Schuh 1998). Die blitzartige Erfahrung unter den asketischen Umständen unterscheidet sich zu sehr vom anschließenden Alltag. Und so wird sie zu einer bloßen Erinnerung und verblasst. Die Betroffenen sind darüber unglücklich und entwickeln teilweise sogar ein schlechtes Gewissen und Selbstvorwürfe.
Yoshimoto war jetzt in dem Alter, in dem man eine bürgerliche Existenz aufbaut – und eine solche Existenz entsprach dem Ideal des Jôdo-Shinshû, denn Shinran hatte ja das Mönchstum verworfen. Nach Abschluss seiner Berufsausbildung arbeitete Yoshimoto kurze Zeit als Verkäufer und wagte dann den Schritt in die Selbständigkeit. Er gründete einen Betrieb zur Herstellung von Kunstleder, damals ein neuartiges Produkt. Durch sein gutes Geschick als Unternehmer konnte er mehr und mehr Mitarbeiter einstellen.
Parallel begann er an seiner selbstgestellten Lebensaufgabe zu arbeiten. Zuerst dachte er nur daran, den asketischen Rahmen der Mishirabe-Übung aufzugeben indem er den Übenden Essen und Schlafen während der Übungstage erlaubte. Doch unverändert sollten sich die Übenden der Jahrhunderte alten Mishirabe-Frage stellen: „Wohin gehe ich, wenn ich jetzt sterbe?“. Kinuko berichtet:
„Anfangs fragte mein Mann immer die Leute: ‚Wohin gehen Sie, wenn Sie jetzt sterben?‘ Doch niemand wollte sich richtig auf diese Frage einlassen.“ (6)
Seine Buchhaltungstätigkeit als erfolgreicher Geschäftsmann brachte Yoshimoto auf eine Idee. Mishirabe bedeutet, sich dem Tod zu stellen. Um zur spirituellen Erfahrung zu gelangen, muss das Ego sterben. Sich dem Tod zu stellen bedeutet auch, Bilanz über das eigene Leben zu ziehen und abzuschließen. Vielleicht könnte man also statt durch Mishirabe-Asketismus diese Bilanz direkt angehen und sich so dem Tod stellen? Um sich nichts vorzumachen sollten die Übenden so gewissenhaft vorgehen wie ein Buchhalter, der einem festen Rahmen folgt mit Einnahmen, Ausgaben, Rechnungsperioden, und sich auf Tatsachen beschränkt statt auf Bewertungen.
Die Anfangsversion des Naikan ist voll jugendlichen Optimismus. Yoshimoto fragt nur, „Was habe ich erhalten?“ und „Was habe ich gegeben?“ – er berücksichtigt in dieser Bilanz nur das Gute!
Die Übung wurde nach einem Raster von Zeitperioden und Personen gegliedert: der Übende begann bei seiner ersten Bezugsperson (also meistens der Mutter) und die erste zu betrachtende Zeitperiode begann mit der Geburt des Übenden. Die Zeitperioden umfassten Dreijahresperioden für jüngere Personen und Fünfjahresperioden für ältere. Nach dem Bearbeiten einer Zeitperiode hatte der Übende die folgende Zeitperiode gegenüber derselben Bezugsperson zu betrachten, bis er bei der Gegenwart angelangt war. Danach folgte dasselbe mit der nächsten Bezugsperson, also generell dem Vater, dann mit weiteren wichtigen Bezugspersonen, wie Geschwister, und schließlich Partner. Nach Abschluss jeder Zeitperiode hatte der Übende dem Übungsleiter zu berichten, gegenüber wem und für welche Zeitperiode er sich geprüft habe. Einen besonderen äußeren Rahmen gab es nicht, die Übung war im Alltag nebenher zu erledigen.
1941 stellte Yoshimoto diese neue Methode erstmals öffentlich vor und nannte sie Nai-Kan, „innere Betrachtung“. Obwohl dieses Naikan einfacher erschien als Mishirabe, war doch der Anspruch derselbe. Yoshimoto sagte zu seinen Übenden:
„Mit voller Kraft und ohne Nachlässigkeit prüfe dich selbst. Es geht um Erleuchtung und Gewissheit. Naikan machen und bereit sein, sich dem Tod zu stellen, sind eins.“ (7)
Viel Zuspruch fand Naikan zuerst nicht.
Kinuko berichtet:
„Damals, Anfang der 40er Jahre, ging mein Mann einmal pro Monat in fünf verschiedene Dörfer. Er ging in die Häuser der Leute und leitete bei ihnen zu Hause nachts Naikan, denn tagsüber mussten diese Menschen arbeiten und er ja auch. Er fragte die Leute, was sie während dieses Monats geprüft hatten. Die Naikan-Übung mussten sie während ihres Alltags machen, beim Kochen, beim Bestellen der Felder oder bei der Reis-Ernte. … Auch wenn es anfangs für meinen Mann sehr beschwerlich war und sich seine Sandalen auf dem Weg in die Dörfer im Regen auflösten, sagte er mir, dass er in seinem Innern fühlte, dass er dies unbedingt machen müsse, auch wenn ihn niemanden darum gebeten habe. … Mitte der 1940er Jahre erkrankte er an TBC. Er hat seinen Körper einfach überanstrengt, bei Tag arbeitete er in der eigenen Firma und nachts hat er Naikan geleitet. Obwohl er soviel gab, wollte es niemand wirklich sehen. Naikan war zu fremd für die Leute.“ (6)
Yoshimoto blieb schließlich fast sieben Jahre lang mit Tuberkulose bettlägerig. Während dieser Zeit führten seine Angestellten seine Firma weiter und brachten sie zu großer Blüte; sie wurde zum führenden Unternehmen der Branche in Japan. Nach seiner Genesung schenkte Yoshimoto das Unternehmen seinen Angestellten und gründete zusammen mit Kinuko in Nara ein ausschließlich dem Naikan dienendes Haus. (1, Maeshiro 2007)
Doch Interesse für Naikan stellte sich nicht ein. Yoshimoto kam schließlich auf die Idee, die Methode im Gefängnis anzubieten als Übung für die Straffälligen. Nachdem er 1955 die Gefängnisleitung von Nara dazu überreden konnte, unterzogen sich tatsächlich einige Häftlinge seiner Methode.
Kinuko berichtet:
„Im Gefängnis leitete mein Mann Naikan, während die Häftlinge arbeiteten oder während ihrer Freizeitbeschäftigung. … Als im Gefängnis Naikan eingeführt war, lud mein Mann unsere Nachbarn und Bekannten ein, um das Gefängnis zu besuchen. Er hatte extra einen kleinen Bus gemietet. Das Gefängnis interessierte die Leute, aber mein Mann wollte die Gelegenheit nutzen, ihnen Naikan nahezubringen. Nach der Besichtigung bewirtete er sie bei uns zu Hause und sprach über Naikan. Von 20 bis 30 Leuten zeigte keiner oder höchstens mal einer Interesse.“ (6)
Im Gefängnis hingegen schlug seine Methode an. Die Strafgefangenen entdeckten etwas für sie Neues: die heilende Kraft der Dankbarkeit. Schließlich wurden einige Sozialwissenschaftler hellhörig. Laut Statistik wird in Japan knapp die Hälfte der Strafgefangenen nach ihrer Entlassung irgendwann wieder straffällig. Doch bei Strafgefangenen, die Naikan geübt hatten, war es nur etwa ein Fünftel (8, Bindzus u. Ishii 1988). Ein Professor für Strafrecht, Prof. Akira Ishii, trug schließlich entscheidend zur Verbreitung von Naikan bei. Nach seiner Zählung hatten in den ersten zwanzig Jahren, nachdem die Methode in einigen japanischen Gefängnissen eingeführt worden war, etwa 100.000 Strafgefangene Naikan geübt (9, Ishii 1993). Wie Jôdo-Shinshu begann auch Naikan in den untersten Schichten der Bevölkerung und erlangte langsam Anerkennung.
Doch kein Erfolg ist ewig: 1995 führte die pseudoreligiöse Gruppe Ôm Shinrikyô einen Anschlag mit dem Nervengas Sarin in der Tokioer U-Bahn aus, was Entsetzen in der japanischen Öffentlichkeit hervorrief. Als Reaktion darauf stoppten japanische Behörden alle irgendwie religiös/spirituell erscheinenden Programme im Rahmen öffentlicher Einrichtungen. Eines dieser Opfer war Naikan im Strafvollzug. Inzwischen ist Naikan im japanischen Strafvollzug völlig in Vergessenheit geraten. In Deutschland und Österreich hingegen gibt es vielversprechende Pilotprojekte im Strafvollzug.(12) Eine japanische Delegation von Strafvollzugsexperten zeigte sich kürzlich diesen deutschen Projekten gegenüber sehr aufgeschlossen und erkundigte sich interessiert, woher die Naikan-Idee stammte! Sie hatten noch nie davon gehört.
Doch Yoshimoto war mit seiner Methode noch nicht zufrieden. Er erkannte, dass es nicht reichte, nur das Positive zu sehen, denn tatsächlich machen sich Menschen das Leben zur Hölle. Shinran selbst hatte gelehrt, dass man sich der Hölle in der eigenen Seele stellen muss, und je stärker sich das Ego dafür schämt, desto eher tritt es zur Seite und lässt die „andere Kraft“ zu. Den beiden ursprünglichen Naikan-Fragen fügte Yoshimoto eine dritte hinzu: „Welche Schwierigkeiten habe ich demjenigen bereitet, gegenüber dem ich mich prüfe?“ Für die Zeiteinteilung gab er vor: Je 20 Prozent der Übungszeit für die beiden ersten Fragen und 60 Prozent für die dritte Frage (10) — der dritten Frage sollte man also dreimal so viel Raum geben, wie der ersten oder der zweiten Frage. Diese dritte Frage wurde damit zur eigentlichen Naikan-Frage.
Implizit gibt es noch eine vierte Frage, und zwar die Frage, welche Schwierigkeiten andere uns bereitet haben. Die Beschäftigung damit führt dazu, dass man sich als getrennt von anderen erlebt und diese als Gegner empfindet. Die vierte Frage führt also zu Vielheit, Trennung, Gegnerschaft, also dem genauen Gegenteil vom Ziel des Naikan. Deshalb ist diese Frage ist im Naikan tabu. Ein großer Teil der Aufgabe des Naikan-Leiters besteht darin, zu verhindern das Naikan-Übende in diese Frage abrutschen. Manche Übenden geben nämlich beim Beantworten der dritten Frage unwillkürlich Begründungen an für die Schwierigkeiten, die sie anderen bereitet haben (... ich habe ihm das angetan, weil er mir jenes angetan hatte ...). Das ist zu vermeiden.
Wird die dritte Frage frei von jeglichem Gedanken an die vierte Frage bearbeitet, führt sie dazu, dass man den Standpunkt anderer versteht, sich nicht mehr als besser als der andere fühlt und den anderen nicht mehr als Gegner ansieht. Die dritte Frage fördert somit das Erleben von Einheit und Verbundenheit. Sie hat dieselbe Wirkrichtung, wie die Lichterfahrung eines Nahtodeserlebnisses oder die Mishirabe-Methode, ist nur viel praktikabler. Man kann die dritte Frage auch als Umsetzung einer paradoxen Aussage von Shinran ansehen: „Sogar der Gute wird erlöst, um wie viel mehr der Böse“ (17). Shinrans Idee dabei ist, dass man einen Ansatzpunkt benötigt, um das Ego zur Seite zu drängen, damit endlich die „andere Kraft“ wirken kann. Indem man sich den eigenen Schattenseiten stellt, z.B. dem Leid, das man anderen zugefügt hat, hat man diesen Ansatzpunkt.
Yoshimoto empfahl, Naikan ohne die geringste Zweckgerichtetheit zu üben (5, Nagashima 1994). Das entsprach Shinrans Ansicht, dass jegliche Berechnung kontraproduktiv auf die Erlangung der Gnade wirkt. Wenn man Naikan macht, um etwas Bestimmtes zu erreichen oder um sich eine bestimmte (innere) Frage zu beantworten, behindert man die „andere Kraft“. Erst wenn man zur Erfahrung der Vergänglichkeit und der Unbeständigkeit allen Egodaseins vorstößt, kann die „andere Kraft“ anfangen zu wirken.
Yoshimoto hatte eine treue Testperson für seine neuen Ideen: seine Schwiegermutter! Ohne sie hätte Naikan nicht seine heutige Form gefunden. Nach ihrem Tod fand man auf einem Zettel ihre Merkverse für sich selbst, die die Wirkung von Naikan im Alltag zeigen (10):
. . .
Den Wert anderer zu erkennen
so geht’s den Lebensweg hinauf.
Überschätze deine guten Seiten nicht,
das ist von Nachteil.
Sei dir deiner Verfehlungen bewusst,
das ist von Vorteil.
Fehler anderer sind auffällig,
gute Taten und Vorzüge anderer
übersieht man leicht.
Aus Kummer lerne:
Es gibt niemand anderen als dich,
der dich quält.
Nie böse über andere reden,
das führt zur Tugend.
Sich nicht über andere ärgern,
das macht das Leben gut.
Der Verlauf der Dinge ist kein Zufall.
Mühsame Arbeit mit Freude gemacht,
wandelt sich zur Lieblingsbeschäftigung.
Bereite anderen keine Schwierigkeiten.
Kümmere achtungsvoll dich um sie. … (10)
Nachdem Yoshimoto sein Naikan-Zentrum in Nara eröffnet hatte, bot er die Naikan-Übung als Klausur an, in Anlehnung an die Mishirabe-Klausur. Die Dauer der Klausur war nicht festgelegt (11). Jeder der Naikan praktizieren wollte, war ihm willkommen. Während der Naikan-Klausur sollten die Übenden nichts anderes außer Naikan machen. Jeder Übende saß hinter einem Wandschirm in einer Ecke, alle ein bis zwei Stunden kamen Yoshimoto oder seine Frau und fragten den Übenden, gegenüber wem und bezüglich welcher Periode er sich geprüft habe. War der Übende unaufmerksam, kamen sie auch alle halbe Stunde (10).
Im Rhythmus dieses Taktes sollten die Übenden anhand der drei Naikan-Fragen Lebensabschnitt nach Lebensabschnitt vor dem inneren Auge betrachten, jeweils gegenüber einer Bezugsperson. Bei den Bezugspersonen wurde die Priorität nach Intensität der Beziehung gesetzt. Nachdem man sich gegenüber allen wichtigen Bezugspersonen im Naikan geprüft hatte, folgte eine ähnlich abschnittsweise Prüfung des eigenen Verhaltens gegenüber dem eigenen Körper, und schließlich noch die abschnittsweise Betrachtung aller Lügen und Diebstähle, die man — auch im übertragenen Sinn — begangen hatte. Alles wurde dem Naikan-Leiter berichtet, der es ohne die geringste Beurteilung und ohne die geringste Anregung zu einer Verhaltensänderung anhörte — entsprechend der Lehre Shinrans, dass jegliche Berechnung und Absicht das Wirken der spontanen „anderen Kraft“ verhindere. Yoshimotos Ermahnung an zukünftige Naikanleiter lautete:
„Deine Hauptaufgabe ist, zuzuhören, was der Naikan-Übende zu sagen hat. Du darfst nie glauben, Naikan-Leiter dürfen leiten oder lenken oder eine überhebliche Gesinnung haben. Du musst dich immer selbst befragen, bin ich innerlich in Ordnung? Mache ich alles richtig? — Pass sehr gut auf dich auf! Bei der Naikan-Leitung muss man immer genau vorgehen. Diejenigen, die zu Naikan gekommen sind, sind nicht gekommen, um dein Gequatsche zu hören. Verstehst du? Deine Aufgabe ist, ausschließlich zuzuhören. Quatsche ja nicht dazwischen. Wenn du den Übenden unterbrichst, wie kann er den Faden wieder finden, den er durch dich verloren hat? Du kannst doch nach deiner Unterbrechung nicht sagen: ‚Können Sie mir noch einmal sagen, was Sie gerade sagen wollten?‘ Ebenso wenig darfst du einen Kommentar geben wie: ‚Ja, das verstehe ich sehr gut‘, und dabei denkst du: Mich juckt es, und ich will reden und reden, aber ich darf nicht reden, das ist eine Qual. — Ja, da musst du dich beherrschen. Das ist das Wichtigste als Naikan-Leiter, sich zu beherrschen.“ (10)
Für Yoshimoto war der Übende der Buddha, der sich zum spirituellen Erwachen vorkämpft, und deshalb verneigt sich der Leiter jedes Mal zu Anfang des Naikan-Gesprächs vor dem Übenden. Die Aufgabe des Leiters ist nur, den Naikan-Prozess aufrechtzuerhalten. Irgendeine Art psychologischer Ratschläge ist fehl am Platz. Der Übende steht sich im Naikan-Prozess den Tiefen seiner eigenen Seele gegenüber. Er muss diese Auseinandersetzung mit sich selbst auskämpfen. Eine Beziehung zum Naikan-Leiter wie zu einem Therapeuten ist nicht erwünscht.
Der Tag sah für den Übenden so aus: Um fünf Uhr aufstehen, um 21 Uhr schlafen gehen, 30 Minuten Zimmer säubern, 15½ Stunden Naikan üben (10).
Das Essen brachte Yoshimoto persönlich den Übenden an den Übungsplatz. Nachts schliefen diese im Naikan-Raum auf den in Japan üblichen Reisstrohmatten. Mit Ausnahme des Naikan-Gesprächs wurde Stille bewahrt.
Manche Übenden wollten sich Notizen machen, um dem Naikan-Leiter anschließend besser antworten zu können. Davon hat Yoshimoto abgeraten (10), denn es kommt auf das innere Erleben an. Der Moment der Gnade ist, wenn das Ego im inneren Erleben zur Seite tritt. Sein langjähriger Assistent Nagashima sagt: „Derjenige, der wirklich weint, hat keine Zeit, Notizen zu machen.“ (10)
Anfangs bot Yoshimoto diese Klausur kostenlos an. Es kamen schließlich auch mehr und mehr Interessenten. Doch bald sah er sich gezwungen dem Missbrauch seiner Gastfreundschaft vorzubeugen. Mit den Worten: „Dies ist hier kein Hotel“ hat er Leute, die nicht ordentlich übten, hinaus geworfen.
Schließlich entschied er sich, die Naikan-Klausur nicht mehr kostenlos anzubieten.
Kinuko berichtet:
„Einmal kam ein Lehrer und übte Naikan. Er sagte, dass er auch Naikan leiten möchte, wenn er einmal pensioniert sei. Mein Mann verstand, dass ein pensionierter Lehrer nicht bei sich zu Hause das Wochen-Naikan durchführen kann, ohne etwas dafür zu verlangen. Die Übenden erhalten Essen und eine Schlafstelle. Auch wenn nicht-pensionierte Menschen Naikan anbieten, so müssen sie ja auch von etwas leben. Aus diesem Grund begann mein Mann, Geld für die Leitung des Naikans zu verlangen. Dadurch hatte Naikan eine Chance, in der heutigen Zeit zu bestehen und verbreitet zu werden.“ (6)
Erst 1968 fand Yoshimoto für Naikan die abschließende Form. Er hatte Naikan über 30 Jahre lang perfektioniert. Für die Klausur legte er eine Dauer von sieben Übernachtungen fest (11). Yoshimoto empfiehlt, die Naikan-Technik während einer ersten Naikan-Klausur zu erlernen und das Naikan anschließend täglich zu üben, wobei es gut sei, von Zeit zu Zeit die Klausur zur Auffrischung zu wiederholen.
Yoshimoto:
„Eine Woche ist der Anfang, tägliches Naikan ist das Ziel. Eine Woche Naikan ist nur das Frühlingsfest, nicht der Erntedank. Man kann eine Woche Naikan mit der Aufstellung eines Telegraphenmastes vergleichen. Dann ist tägliches Naikan der Draht, der verbindet.
Naikan ist der heilende Eingriff in den Geist. … Was ist der Zweck deines Daseins? Lebst du den Zweck deines Daseins? … Lass keine Minute, keine Sekunde ungenutzt verstreichen. Mach so dein Naikan. … Ziel des Naikans ist die Verwandlung des Gemüts, damit wir, egal wie schlimm die äußeren Umstände sind, voll Dankbarkeit leben können und den Wunsch haben, das empfangene Gute zurückzuerstatten.“ (7)
Langsam fand Naikan mehr Zuspruch. Eine japanische Naikan-Gesellschaft wurde gegründet, die 1978 ihr erstes Jahrestreffen veranstaltete. Auch international zeigte sich Interesse; 1980 fand das erste ausländische Naikan-Schweigeseminar in Österreich statt.
Obwohl er Naikan weitgehend von religiösem Ritual befreit hatte, sah Yoshimoto sein Werk doch tief in den Geist Buddhas und Shinrans eingebettet:
„Die Begründer von Naikan sind Buddha und Shinran. Ich bin nur der, der die Trommel schlägt.“ (7)
1988 hatte er die Trommel genug geschlagen. Mit 73 Jahren starb er.
Ob ich Urvertrauen erlangt habe, zeigt sich im täglichen Handeln.