Bogenschießen als geistige Übung

Kyudo japanisches Schriftzeichen

Kyudo, der Weg des Bogens im Zen-Buddhismus.

Der Schütze wird Zielender und Ziel, Treffender und Getroffener. Trotz seines Tuns bleibt er unbewegte Mitte.

Die Zen-Erfahrung des Eugen Herrigel

Biographischer Hintergrund

Eugen Herrigel, geboren 1884, studierte in Heidelberg erst Theologie und danach Philosophie. Seinen Doktortitel erwarb er unter Professor Lask, einem Kant-Anhänger, dessen Lieblingsstudent er war. Dann kam der erste Weltkrieg. Herrigel wurde zusammen mit seinem Professor eingezogen. Lask fiel im Krieg. Herrigel selbst wurde erst sechs Jahre später aus der Armee entlassen, lungenkrank und mit ruinierter Gesundheit. Danach ging er als Privatdozent zurück an die Universität.

Ab 1921 gab es einige wenige japanische Studenten in Heidelberg. Herrigel freundete sich mit ihnen an. Sie gehörten zur Elite ihres Landes; an der Universität wurden sie damals „wie Könige aus einem reichen Märchenland“(1) angesehen. Durch den Währungsverfall in Deutschland waren sie zudem finanziell begünstigt. Herrigel war von ihrer Lebenseinstellung fasziniert. Einer dieser Japaner berichtete später über Herrigel:

Kyudo-Ausgangsposition
Ausgangsposition
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Spannen des Bogens
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Schussbereit
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Abgeschossen

… das Leben als Privatdozent war erbärmlich, andererseits hatte er zahlreiche Japaner als Freunde gewonnen und Japan war ihm zum Traumland geworden, weshalb er den Wunsch hatte, unbedingt einmal nach Japan zu kommen, dort in Ruhe sein eigenes System auszuarbeiten und dabei Vorlesungen zur deutschen Philosophie in Japan zu halten.(2)

Herrigel hatte ein besonderes Interesse an Mystik. In universitären Kreisen bedeutete Mystik nur das literarische Studium mystischer Schriften. Herrigel hingegen wünschte sich eigene Erfahrungen. Als er von seinen japanischen Freunden etwas über die Zen-Tradition hörte, wollte er sie unbedingt kennenlernen.

Seine japanischen Freunde ermöglichten es ihm, fünfeinhalb Jahre als Gastprofessor nach Japan zu kommen, von 1924 bis 1929, und zwar zur kaiserlichen Universität von Sendai. Die Zeit in Japan war für Herrigel beruflich besonders erfolgreich. Er veröffentlichte seine Habilitationsschrift (1926), arbeitete eine großangelegte Kantstudie aus (1929) und machte das Gedankengut seines Lehrers Lask in Japan bekannt. Neben Philosophie unterrichtete er an der Universität Griechisch und Lateinisch. Ein japanischer Professor schlug außerdem vor, dass Herrigel Meister Eckhart im Original unterrichte. Dieser Professor meinte nämlich, dass „bei den Deutschen ein mystischer Zug augenfällig ist“(3). Also lehrte Herrigel noch Mittelhochdeutsch und las mit Japanern Meister Eckhart in der Ursprache. — Schon in Heidelberg hatten die Studenten seinen lebendigen Vortragsstil geliebt, in Japan beeindruckten zudem „das heftige Selbstvertrauen und der Eifer Herrigels“(4).

Bemühung um Zen

In Japan bemühte sich Herrigel sogleich um Einführung in die mystische Tradition. Er stieß jedoch auf zähen Widerstand. Seine Ansprechpartner glaubten nicht, dass Zen etwas für einen intellektuellen Europäer sei.

Einige Zeit später, als Herrigel bei einem Treffen mit Universitätskollegen im 5. Stock eines Hotels war, begann ein Erdbeben. Die Gäste stürzten panikartig nach draußen. Sein japanischer Gesprächspartner jedoch begab sich mitten in dem Chaos in die Zen-Meditationshaltung und blieb unbeweglich sitzen. Herrigel blieb im Raum, starrte den Meditierenden angstvoll an und wartete das Ende des Erdbebens ab. Nach dem Erdbeben setzte der Japaner das Gespräch an der Stelle fort, an der es unterbrochen worden war. Herrigel selbst war dazu nicht mehr in der Lage. Er wollte nun endlich die Zen-Mystik kennenlernen.

Man versuchte wieder, ihn abzuweisen. Er blieb hartnäckig. Zen habe keine Lehre und kein Dogma, es sei aussichtslos für Europäer. Er bat trotzdem weiter um Unterweisung. Schließlich sagte man ihm: Eine Möglichkeit der Einweisung besteht darin, zuerst eine Kunst zu erlernen, die vom Geist des Zen lebt. Herrigel willigte ein.

Doch selbst das gestaltete sich schwierig. Die Lehrer dieser Künste zögerten damals, einen Europäer als Schüler anzunehmen. Erst als Herrigel versicherte, er möchte wie der jüngste Schüler behandelt werden, wurde er zusammen mit seiner Frau von einem Meister des Bogenschießens als Schüler angenommen. Seine Frau wurde zusätzlich als Schülerin in den Künsten des Blumensteckens und der Tuschemalerei angenommen.(5)

Bogenschießen

Die Herrigels kamen mit Dolmetscher zum Unterricht. Der Meister erklärte zuerst die Form des Bogens, hängte die Bogensehne ein und zeigte, wie die Bogensehne gezogen wird, so weit, wie es der Bogen nur zulässt.

„In diesem Moment schließt der Bogen das Weltall in sich ein.“ erklärte er.

Dann ließ der Meister die nur wenig angezogene Bogensehne ein paar Mal zurückschnellen. Ein tiefes Summen gemischt mit einem Schlag; ein magisches Geräusch. Er legte einen Pfeil ein, spannte den Bogen extrem weit und schoss nach kurzem Innehalten ab. Mühelos und schön.

„Machen Sie es ebenso, aber beachten Sie dabei, dass Bogenschießen nicht dazu da ist, Muskeln zu stärken.“

Der Meister ergriff Herrigels Hände und führte ihn durch alle Phasen der Bewegung. Herrigel merkte, dass er erhebliche Körperkraft aufwenden musste, um den Bogen zu spannen. Seine Hände begannen zu zittern und sein Atem ging schwer.

In den folgenden Wochen übte er verbissen das Bogenspannen. Höflich und aufmerksam verfolgte der Meister diese Bemühungen, lobte Herrigels Eifer und tadelte seinen Kraftaufwand. Irgendwann hatte er das deutsche Wort gelockert kennengelernt und begann es dem Schüler zuzurufen.

Stufe 1: Atmen

Schließlich verlor Herrigel die Geduld. Der Meister erklärte:

„Sie können es nicht, weil Sie nicht richtig atmen.“

Dann zeigte er, wie nach dem Einatmen der Atem leicht nach unten gedrückt wird, wodurch sich die Bauchdecke etwas spannt; nach kurzem Festhalten langsam und gleichmäßig ausatmen; nach kurzer Pause rasch einatmen.

„Mit der richtigen Atmung entdecken Sie den Ursprung geistiger Kraft. Je lockerer Sie sind, desto leichter fließt die Kraft.“

Der Meister nahm den Bogen, spannte ihn und ließ sich von Herrigel die Armmuskeln abtasten. Sie waren so spannungsarm, als hätten sie nichts zu tun.

Jetzt übte Herrigel erst einmal die Atmung ohne Bogen. Der Meister forderte ihn auf, beim Ausatmen zu summen, um die gleichmäßige langsam versiegende Ausatmung zu erlernen.

Schließlich wurde Atmen in Verbindung mit den Schritten des Bogenschießens geübt. Es fiel Herrigel anfangs sehr schwer, die Atmung entspannt auf das Bogenspannen wirken zu lassen. Er entschuldigte sich und sagte, dass er sich gewissenhaft bemühe, gelockert zu sein. Der Meister erwiderte:

„Das ist gerade der Fehler, dass Sie sich darum bemühen. Atmen Sie so, als hätten Sie nichts anderes zu tun.“

Nach langem Üben gelang es Herrigel dann tatsächlich einmal, sich unbekümmert in die Atmung fallen zu lassen. Er atmete nicht mehr, er wurde geatmet. Im Lauf der Zeit gelang es ihm immer öfter, bei völliger Lockerung den Bogen zu spannen und die Spannung zu halten. So verging das erste Übungsjahr.

Stufe 2: Geistesgegenwart

Dann kam das Lösen des Schusses an die Reihe.

Der Meister führte das Lösen des Schusses mühelos und mit Leichtigkeit vor, ohne die geringste Erschütterung des Körpers. Bei Herrigel hingegen bewirkte die Gewalt des Abschusses einen kräftigen Ruck mit Erschütterung des ganzen Körpers, des Bogens und des Pfeiles.

Herrigel übte fleißig, aber das Öffnen der rechten Hand gelang ihm nicht ohne Anstrengung, und er wurde immer unsicherer. Sein Versagen ließ den Meister gelassen:

„Denken Sie nicht an das, was Sie zu tun haben! Überlegen Sie sich nicht, wie es auszuführen ist. Der Schuss wird erst dann glatt, wenn er den Schützen selbst überrascht. Sie dürfen die rechte Hand nicht absichtlich öffnen.“

Es folgten Monate fruchtlosen Übens. Wie Herrigel es auch anstellte, es schien verkehrt. Der Meister erklärte schließlich:

„Sie müssen die gespannte Bogensehne etwa so halten, wie ein kleines Kind den dargebotenen Finger. Es hält ihn fest umschlossen, und man wundert sich über die Kraft der winzigen Faust. Und dann lässt es den Finger los ohne irgendeinen Ruck. Wissen Sie weshalb? Weil das Kind nicht denkt. Unabsichtlich wendet es sich etwas anderem zu.“

— „Aber ich befinde mich in einer völlig anderen Situation,“ entgegnete Herrigel, „ich fühle: wenn der Schuss nicht sofort fällt, kann ich die Spannung nicht mehr aushalten.“

— „Der richtige Schuss im richtigen Augenblick gelingt Ihnen nicht, weil Sie nicht von sich selbst loskommen. Sie spannen den Bogen nicht auf die Erfüllung gerichtet, sondern warten auf Ihr eigenes Versagen. Die echte Kunst ist zwecklos, absichtslos. Ihr eigener Wille steht Ihnen im Weg.“

— „Aber, Sie haben doch selbst gesagt, Bogenschießen ist kein zweckloses Spiel, sondern eine Angelegenheit auf Leben und Tod.“

— „Ein Schuss, ein Leben. Mit dem oberen Ende des Bogens durchstößt der Schütze den Himmel, am unteren Ende des Bogens hängt die Erde. Aber Absichtlichkeit zerreißt diese Beziehung.“

Herrigel verstand: Er sollte mit Absicht absichtslos werden. Doch auch nach dieser Unterredung wurde sein Schießen nicht besser. In den folgenden Übungsstunden verkrampfte er sich immer mehr. Schließlich brach der Meister die Übung ab:

„Wenn Sie in Zukunft zum Unterricht kommen, müssen Sie sich schon unterwegs sammeln. Gehen Sie an allem vorbei, ohne es zu beachten, so, als gäbe es auf der Welt nur eins, was wichtig ist, nämlich das Bogenschießen.“

Herrigel lernte jetzt, dass zur richtigen Lösung des Schusses nicht nur körperliche Gelockertheit, sondern auch geistige Freiheit gehört. Richtige Atmung reicht nicht aus, man braucht noch ein Sich-Lösen von allen Bindungen, ein Ichlos-Werden. Nach Anweisung des Meisters übte er nun, die durch die Sinne einströmenden Reize auszuschalten. Als Methode diente die Bereitschaft, widerstandslos auszuweichen, während sich das Denken auf die Atmung richtet. Dazu wurden Einatmen und Ausatmen jeweils für sich pedantisch sorgfältig geübt.

Herrigel merkte, dass mit zunehmender Übung die äußeren Reize verblassten. Im Lauf der Zeit konnte er sich sogar gegenüber starken äußeren Reizen unempfänglich machen. Schließlich erreichte er kurzzeitig einen Zustand, in dem er unbetroffen in sich weilte und nur wusste und fühlte, dass er atmet. Aber nur kurz, denn dann kamen von irgendwoher Stimmungen, Gefühle, Wünsche, Sorgen, Gedanken in wilder Mischung, so als wollten sie sich dafür rächen, dass seine Konzentration neue Bereiche berührte. Herrigel lernte, auch diese Störung unwirksam zu machen, indem er unbekümmert weiter atmete, freundlich zuschaute, was in seinem Innern auftauchte und gleichmütig blieb. Schließlich konnte er sich willentlich in einen Zustand begeben, der dem Hindämmern unmittelbar vor dem Einschlafen glich.

Dort angelangt, lernte er, sich selbst eine Art inneren Ruck zu geben, so als hinge von seiner Wachheit sein Leben ab. Dadurch kam er in einen Zustand, in dem er zwar nichts Bestimmtes mehr dachte, plante, erstrebte, wünschte, erwartete, aber dennoch ungeahnte Kraft in sich spürte. Diesen Zustand nannte sein Lehrer die rechte Geistesgegenwart.

Die Krise

Die Ausführung der gesamten Schritt- und Haltungsabfolge des Bogenschießens wurde für Herrigel zunehmend leichter und mühelos, wie im Traum. Dennoch reichte seine Konzentration immer nur bis zu dem Augenblick, in dem der Schuss fallen sollte. Das geforderte Verweilen in der höchsten Spannung blieb ihm so unerträglich, dass er die geforderte rechte Geistesgegenwart nicht aufrechterhalten konnte. Der Meister ermahnte ihn:

„Hören Sie auf, an den Abschuss zu denken!“

Doch Herrigel blieb dabei, den Schuss absichtlich zu lösen. Er war jetzt schon im dritten Unterrichtsjahr, sein Versagen deprimierte ihn. Ein anderer Deutscher bemerkte spöttisch, es gäbe doch wohl Wichtigeres in Japan zu lernen, als dieses brotlose Bogenschießen.

Der Meister versuchte, die Denkweise seines Schülers noch besser zu verstehen, und begann deshalb eine Einführung in die westliche Philosophie zu lesen. Bald jedoch legte er das Buch unmutig wieder beiseite mit den Worten, er könne sich vorstellen, dass die Kunst des Bogenschießens schwer zu lernen sei, wenn man sich mit solchen Dingen beschäftigt.

Herrigel und seine Frau machten dann in den Semesterferien Urlaub am Meer. Natürlich hatten sie ihre Bögen mitgenommen. Die Lösung des Schusses beschäftigte Herrigel tagein, tagaus. Schließlich glaubte er, eine entscheidende Entdeckung gemacht zu haben. Statt Mangel an Ichlosigkeit, fand er, dass er die Finger der rechten Hand einfach zu verkrampft hielt. Er dachte, es sei wie beim Gewehrschießen, wo man den Zeigefinger ganz langsam krümmt, bis ein verschwindend leichter Druck den Schuss auslöst. Genauso strecke er nun ganz langsam die Finger der rechten Hand, bis sich der Schuss wie von selbst blitzartig löste. Allerdings benötigte diese Präzisionsarbeit die volle Konzentration auf die rechte Hand. Er hoffte jedoch, dass auch das nach einiger Zeit automatisch werden würde und er zu seiner Zen-Konzentration zurückkehren könne. Er wurde dabei ganz zuversichtlich und hatte das Gefühl, ein entscheidendes Stück weiter gekommen zu sein.

Gleich nach der Rückkehr aus dem Urlaub gab Herrigel im Unterricht einen seiner neuen gelungenen Schüsse ab. Der Meister schaute ungläubig und sagte: „ Noch einmal bitte.“ Herrigel gab einen, seiner Meinung nach, noch besseren Schuss ab. Wortlos nahm ihm der Meister den Bogen aus der Hand und setzte sich mit dem Rücken zu ihm auf ein Kissen. Herrigel wusste, dass dies ein Rausschmiss war und ging notgedrungen. Am nächsten Tag brachte ihm der Dolmetscher die Nachricht, dass der Meister es ablehne, ihn weiter zu unterrichten, da Herrigel versucht habe, ihn zu betrügen. Herrigel war bestürzt und beschämt. Nur nach Fürbitte des Dolmetschers beim Meister durfte er wieder zum Unterricht erscheinen, mit der Bedingung, nie wieder gegen den Geist der „Großen Lehre“ zu verstoßen.

Stufe 3: Es

Ohne den Vorfall direkt anzusprechen, empfing ihn der Meister schlicht: „Warum fragen Sie sich ständig: ‚ Werde ich es auch schaffen?‘ Warten Sie lieber geduldig ab, was kommt und wie es kommt!“

— „Aber“, erwiderte Herrigel, „ich bin schon im vierten Übungsjahr, und mein Aufenthalt in Japan ist begrenzt.“

— „Der Weg zum Ziel ist nicht messbar. Wochen, Monate, Jahre sind dort bedeutungslos.“

— „Aber, wenn ich auf halbem Wege abbrechen muss?“

— „Wenn Sie wahrhaft ichlos geworden sind, können Sie jederzeit abbrechen. Also üben Sie sich darin!“

Der Unterricht begann wieder ganz von vorn, so, als hätte Herrigel noch gar nichts gelernt. Das absichtslose Verweilen in der höchsten Spannung missriet ihm jedoch nach wie vor. Schließlich fragte er: „Aber wie kann denn der Schuss gelöst werden, wenn ich gar nicht dabei sein soll?“

— „Es schießt.“

— „Und wer oder was ist dieses Es?“

— „Wenn Sie das verstanden haben, haben Sie mich nicht mehr nötig.“

Und das Üben ging weiter; die Wochen vergingen, kein Fortschritt schien in Sicht. Doch das berührte jetzt Herrigel nicht mehr. Ob er es erlernte oder nicht, das kümmerte ihn auf einmal nicht mehr. Alles, worum er sich Jahre hindurch standhaft bemüht hatte, schien ihm irgendwie gleichgültig zu werden, seine berufliche Arbeit eingeschlossen. Er tat alle Tätigkeiten wie bisher, doch sein Herz hing an nichts mehr.

Und plötzlich, eines Tages, nach einem Schuss, verbeugte sich der Meister vor Herrigel: „Soeben hat Es geschossen.“

Herrigel starrte ihn fassungslos an. Als er begriffen hatte, was passiert war, platzte er fast vor Freude.

„Das war kein Lob, nur eine Feststellung, die Sie nicht berühren darf“, tadelte der Meister. „Sie sind ganz unschuldig an diesem Schuss. Als Sie absichtslos in höchster Spannung weilten, fiel der Schuss von Ihnen ab wie eine reife Frucht. Üben Sie jetzt weiter, als wenn nichts geschehen wäre.“

Erst nach geraumer Zeit gelangen Herrigel dann und wann wieder richtige Schüsse, die der Meister wortlos durch eine tiefe Verbeugung auszeichnete. Wie diese Schüsse zustande kamen, konnte sich Herrigel nicht erklären — jedenfalls unterschieden sie sich deutlich von den gewollten Schüssen. Bei den richtigen Schüssen blieben Konzentration, Atmung und Herzschlag in ungestört mühelos gleichmäßigem Gleiten, und man hatte das köstliche Gefühl, als habe der Tag gerade erst begonnen. Der Meister mahnte ihn leise:

„Wer diesen Zustand hat, tut gut daran, ihn so zu haben, als hätte er ihn nicht.“

Stufe 4: Buddha

Neu hinzu kam jetzt der Schuss auf die Scheibe; bisher hatte nur eine Strohwalze in der Nähe als Pfeilauffänger gedient. Die Scheibe ruhte auf einer hohen und breiten Sandaufschüttung in etwa 60 m Entfernung in einer kleineren einseitig offenen Holzhalle mit geschwungenem Ziegeldach. Die Strecke zwischen der Übungshalle und der Zielhalle war durch einen Bretterzaun nach außen abgeschirmt.

Nachdem der Meister zwei Pfeile auf die Scheibe geschossen hatte, die natürlich genau ins Schwarze trafen, forderte er Herrigel und seine Frau auf, sich von der Scheibe nicht im Geringsten beirren zu lassen und einfach einen richtigen Schuss kommen zu lassen. Immerhin flogen Herrigels Pfeile schon in die richtige Richtung, doch sie bohrten sich weit vor dem Ziel in die Erde.

„Ihre Pfeile fliegen nicht weit genug, weil sie geistig nicht weit genug reichen. Sie müssen sich so verhalten, als wäre das Ziel unendlich fern. Der vorbereitende Handlungsablauf darf auch nicht wie etwas Auswendiggelerntes sein. Sie müssen ihn erleben, wie die Eingebung des Augenblicks, wie einen Tanz, in dem Tanz und Tänzer eins sind.“

Dieser vorbereitende Handlungsablauf — also, wie man den Bogen hält, den Pfeil nimmt, die Sehne spannt — war nun jahrelang geübt worden. Herrigel versuchte, den Rat des Meisters umzusetzen, und seine Pfeile flogen bald immerhin weit genug. Die Scheibe traf er aber nie. Schließlich fragte er den Meister, wie man denn überhaupt ziele. Der erwiderte:

„Wollen Sie ein Kunstschütze sein, der ehrgeizig seine Treffer zählt? Die große Lehre des Bogenschießens weiß nichts von einer Scheibe, die in einer bestimmten Entfernung aufgestellt ist. Sie weiß nur von einem Ziel, das sich technisch nicht erreichen lässt. Sie nennt es, wenn sie es überhaupt benennt: Buddha.“

Dann forderte ihn der Meister auf, seine Augen beim Schießen genau zu beobachten. Herrigel sah, dass des Meisters Augen fast geschlossen waren. Er zielte nicht so, wie man es erwarten würde. Dementsprechend übte Herrigel unbekümmert weiter, ohne sich darum zu kümmern, wohin sein Pfeile folgen. Auf Dauer war er jedoch dem Schießen ins Blaue nicht gewachsen und sprach den Meister wieder darauf an. Die Antwort war:

„Sie machen sich unnötige Sorgen. Schlagen Sie sich doch das Treffen aus dem Sinn! Erst auf der letzten Stufe der Meisterschaft wird auch das äußere Ziel nicht mehr verfehlt. Das sind Vorgänge, die der Verstand nicht begreift.“

— „Aber,“ entgegnete Herrigel, „ist es nicht denkbar, dass Sie unbewusst mit halbgeschlossenen Augen zielen und die Scheibe durch jahrzehntelange Wiederholung treffen, auch ohne daran zu denken?“

— „Ich will nicht behaupten, dass das kein Argument ist,“ antwortete der Meister höflich. „Doch ich weiß, dass das nicht die richtige Erklärung ist. Denn, obwohl ich die Scheibe sehen kann, sehe ich sie nicht.“

— „Dann müssten Sie auch mit verbundenen Augen treffen,“ rutschte es Herrigel heraus.

Mit großen Augen blickte der Meister ihn an und sagte schließlich: „Kommen Sie heute abend.“

So kam Herrigel nach Einbruch der Nacht zurück. Draußen war es ganz still. Die Übungshalle war erleuchtet, die Zielhalle lag unsichtbar im Dunkeln. Der Meister bat Herrigel, ein Räucherstäbchen anzuzünden, zur Zielhalle zu gehen und es vor der Scheibe in den Sand zu stecken. Danach tanzte der Meister die Schussvorbereitung und schoss in die Nacht. Das Aufschlaggeräusch zeigte, dass er die Scheibe getroffen hatte. Ein zweiter Schuss. Dann machte Herrigel Licht in der Zielhalle: Der erste Pfeil saß mitten im Schwarzen, der zweite Pfeil jedoch hatte den ersten Pfeil von hinten zersplittert und sich neben der Spitze des ersten in die Scheibe gebohrt. Herrigel konnte es nicht fassen und brachte die Scheibe samt den Pfeilen zum Meister. Dieser sagte ihm daraufhin:

„Ich weiß jedenfalls, dass nicht ich es bin, dem diese Schüsse anzurechnen sind. Es hat geschossen und getroffen. Verneigen wir uns vor dem Ziel als vor Buddha.“

Mit diesen beiden Schüssen hatte der Meister auch Herrigel ins Herz getroffen. Der war plötzlich wie verwandelt: er kam nicht mehr in Versuchung zu zielen. Der Meister gab ihm noch eine andere Art von Hilfe in der Folgezeit. Immer, wenn Herrigel fortgesetzt schlecht schoss, nahm der Meister Herrigels Bogen und schoss einige Male. Danach war der Bogen wie verwandelt, irgendwie williger, verständiger. Herrigel befragte dazu andere Schüler und erfuhr, dass es denen ebenso erging.

Eines Tages rief der Meister im Augenblick, als Herrigel seinen Schuss löste: „Es ist da! Verneigen Sie sich!“ Herrigel schaute zur Scheibe — er konnte es nicht unterlassen — und sah, dass der Pfeil sie am Rande gestreift hatte.

„Das ist ein richtiger Schuss,“ entschied der Meister. „So fängt es an. Aber jetzt Schluss für heute, sonst geben Sie sich beim nächsten Schuss besondere Mühe und verderben den guten Anfang.“

Im Lauf der Zeit gelangen Herrigel dann ab und zu weitere »richtige« Schüsse. Aber immer, wenn sich darüber auch nur der leiseste Stolz in ihm regte, wurde der Meister schroff:

„Was bilden Sie sich ein? Über schlechte Schüsse sollen Sie sich nicht ärgern, das wissen Sie längst. Fügen Sie hinzu, sich über gute Schüsse nicht zu freuen. Vom Hin und Her zwischen Lust und Unlust müssen Sie sich lösen. Lernen Sie Gleichmut, so als hätte ein anderer geschossen. Auch diesen Gleichmut müssen Sie unermüdlich üben.“

Die folgenden Monate wurden die härtesten aus Herrigels Sicht, doch er konnte nicht mehr zurück. Der Meister vernichtete jetzt die letzten Regungen seines Dranges, sich mit sich selbst und seinen Stimmungsschwankungen zu beschäftigen.

Schließlich, nach einem besonders guten Schuss, fragte ihn der Meister: „Verstehen Sie jetzt, was es bedeutet: Es schießt?“

— „Ich fürchte, ich verstehe nichts mehr,“ antwortete Herrigel. „Bin ich es, der das Ziel trifft, oder trifft das Ziel mich? Das Bedürfnis, zu trennen, ist verschwunden. Sobald ich den Bogen zur Hand nehme und schieße, ist alles so klar und eindeutig und so lächerlich einfach…“

Ausklang

Der Aufenthalt der Eheleute Herrigel in Japan neigte sich seinem Ende zu. Über fünf Jahre lang hatten sie beim Meister gelernt. Der Meister schlug beiden jetzt vor, in einer Prüfung vor Zuschauern ihr Können zu zeigen. Nachdem sie zugestimmt hatten, wurde die Prüfung im Unterricht nicht mehr erwähnt und das Schießen wurde oft schon nach wenigen Schüssen abgebrochen. Stattdessen wurden vorbereitende Schritte und Stellungen und die Atmung wiederholt; auch zu Hause mussten die Herrigels dies wieder und wieder einüben. Der Zustand der Geistesgegenwart gelang ihnen dadurch immer müheloser. Beide bestanden die Prüfung schließlich so, dass der Meister es nicht nötig hatte, mit verlegenem Lächeln die Zuschauer um Nachsicht zu bitten. Beiden wurden Diplome ausgehändigt, und wenige Tage später erhielt Herrigels Frau in einer weiteren Prüfung den Meistertitel im Blumenstellen.

In den Unterrichtsstunden nach der Prüfung ging es dann um das Schießen ohne Pfeil und Bogen, das geistige Bogenschießen, die bewegungslose Bewegung, d.h. um Zen, welches die Vollendung des Bogenschießens ist. Der Meister deutete mit spärlichen Worten nur an, was er sagen wollte, doch die Herrigels verstanden. Schließlich kam der Abschied. Herrigel fragte, wie sie bei der Rückkehr nach Deutschland weitermachen sollten. Der Meister erklärte:

„Ich weiß, dass Sie das geistige Bogenschießen nicht mehr lassen können. Lehrer und Schüler sind nicht mehr zwei, sondern eins. Ich bin immer dabei, wenn Sie üben, wie sie es gelernt haben. Ich möchte Sie nur auf eines vorbereiten: Sie haben sich beide verändert. Das bringt die Kunst des Bogenschießens mit sich: eine bis in letzte Tiefen reichende Auseinandersetzung des Schützen mit sich selbst. Sie werden es spüren, wenn Sie in Ihrer Heimat Ihren Freunden und Bekannten wieder begegnen. Sie sehen vieles anders und messen mit anderen Maßen.“

Tatsächlich muss für Herrigel nach der Rückkehr einiges anders gewesen sein. Er bekleidete dann zwar das Amt eines Professors für systematische Philosophie an der Universität Erlangen, aber er hat keine wissenschaftlichen Schriften mehr veröffentlicht. Der zweite Weltkrieg verhinderte einen zweiten Japanbesuch. 1955 starb er. Als Philosoph sind er und sein Lehrer Lask heute vergessen. Sein Buch Zen in der Kunst des Bogenschießens jedoch ist bis heute ein großer Erfolg, und es wurde in viele Sprachen übersetzt.

Fußnoten

—>zurück zum Text
  1. so der Germanist Schinzinger, zitiert in Gülberg: Eugen Herrigels Wirken als philosophischer Lehrer in Japan.
  2. Kita Reikichi, zit. in Gülberg s.o
  3. Ishihara Ken, zit. in Gülberg s.o
  4. Inatomi Eijirô, zit. in Gülberg s.o
  5. Gusty L. Herrigel: Der Blumenweg. O.-W.-Barth-Verlag 1958, München-Planegg

Benutzte Literatur

  • Eugen Herrigel: Zen in der Kunst des Bogenschiessens. Curt Weller Verlag 1948, Konstanz
  • Eugen Herrigel: Der Zen-Weg. Aufzeichnungen aus dem Nachlass. O.-W.-Barth-Verlag 1958, München
  • Niels Gülberg: Eugen Herrigels Wirken als philosophischer Lehrer in Japan. (in: Waseda-Blätter 4/1997-5/1998) http://faculty.web.waseda.ac.jp/guelberg/publikat/herrigel.htm
  • H. J. Stein: Die Kunst des Bogenschießens Kyudo. Scherz 1985, Bern (Vorlage für die Strichzeichnungen)

Die mystische Silbe OM ist der Bogen, die individuelle Seele ist der Pfeil, und Brahman, der göttliche Urgrund, ihr Ziel. Vom dem, der nicht von der Welt berauscht ist, ist es zu treffen, Möge dieser, wie der Pfeil, eins werden mit dem Ziel. — Mundaka Upanishad 2.2.4