Der Hinduismus geht auf vorgeschichtliche Zeit zurück. Seine älteste Zeugnisse sind mündlich überlieferten Gebete und Gesänge, die nach Auffassung der Hindus von Sehern geschaut wurden. Sie wurden später zusammengefasst in den vier Veden. Die sich daraus entwickelte Religion ist eigentlich namenlos und anfangslos. Als ein Namen gebraucht wurde, gab man sich die Selbstbezeichnung „ewige Religion“, Sanâtana Dharma.
Hindu ist die altpersische Bezeichnung derjenigen, die beim Fluss Sindhu (dem Indus) lebten. Die Griechen unter Alexander dem Großen machten daraus „Indoi“. Daraus entstand unser Wort „Indien“. Das Wort „Hindu“ als Religionsbezeichung wurde von Mohammedanischen Eroberen eingeführt und von den Engländern übernommen.
Die Kastengesellschaft besteht in Indien seit Jahrtausenden. Es hat immer auch wieder Versuche gegeben, deren offensichtliche Nachteile zu überwinden. Die Kastengesellschaft hatte aber religionsgeschichtlich einen großen Vorteil: Die Priesterkaste und die Kriegerkaste hatten deutlich abgegrenzte Aufgabenbereiche und wollten sich gegenseitig nicht in ihre Bereiche reinreden lassen. Ein Priester konnte nie König werden, die Krieger stellten die Könige. Die Priester konnten ihre Meinungsverschiedenheiten nicht mit den Werkzeugen der Krieger austragen. Sie mussten den Kampf um Anerkennung mit Argumenten führen.
Aus den alten Schriften wird klar, dass es seit frühester Zeit in Indien eine lebendige religiöse Diskussionskultur gab. Die Diskussionen fanden öffentlich statt, z.B. am Hof eines Königs, es gab Schiedsrichter und der Gewinner erhielt einen Preis, z.B. eine Anzahl Kühe. Religiöse Meinungsvielfalt war normal. Dementsprechend heißt es schon im Rig-Veda:
Ekam sad, viprâ bahudhâ vadanti
Die Wahrheit ist Eins, die begeisterten Priester sprechen darüber unterschiedlich.
In der abendländischen Kultur, ebenso im Judentum und im Islam, begegnet man immer wieder der Einheit von weltlicher und religiöser Macht. Moses z.B. ist Heerführer und religiöser Führer zugleich. Als einige Israeliten eine goldenen Kalbsstatue verehren, löst er dieses religiöse Problem mit dem Werkzeug des Kriegers: Er lässt sie töten.
Als das Christentum 391 römische Staatsreligion wird, entsteht wieder eine Einheit aus weltlicher und religiöser Macht. Alle anderen Religionen werden daraufhin im römischen Weltreich verboten. Religiöse Streitigkeiten werden auf Konzilen verbindlich entschieden. Das Christentum entwickelt eine offizielle Linie mit zuverlässiger hierarchischer Organisation nach dem Vorbild des römischen Kaiserreichs.
In der abendländischen Religionskultur wurden Aussagen von Menschen, die von direkter Gotteserfahrung berichten, immer an der offiziellen Linie gemessen. Abweichungen von dieser Linie konnten recht „unangenehm“ für den Mystiker werden. Mystik hatte sich unterzuordnen. Man kann unsere abendländische Religionskultur eine „religiöse Planwirtschaft“ nennen.
In Indien fehlten seit jeher die offizielle Linie, eine entsprechende Organisation und eine Einheit von weltlicher und geistlicher Macht. Die indische Religionskultur entwickelte sich zur „religiösen Marktwirtschaft“ — mit Angebotsvielfalt vom Aberglauben bis zu erhabenen Vorstellungen, geregelt von Angebot und Nachfrage, wobei gute Ideen kopiert und weiterentwickelt werden. Diejenigen, die von direkter Gotteserfahrung berichteten, wurden die Wortführer. Religion ordnete sich der Mystik unter.
Für eine gut organisierte Religion ist ein handliches Buch ungemein praktisch. Die Bibel oder der Koran sind leicht transportabel, man kann sie in überschaubarer Zeit durcharbeiten, sie gut weitergeben und zu einen Objekt der Verehrung machen. „Es steht geschrieben!“
Die religiöse Kultur wurde in Indien hingegen Jahrtausende lang mündlich weitergegeben. Heilig war nicht das, was „geschrieben stand“, sondern was man von den ehrwürdigen Lehrern, den Gurus, gehört hatte. Nachdem die heiligen Überlieferungen in Büchern niedergeschrieben waren, dienten die Bücher ersteinmal nur zur Kontrolle, dass man den auswendig gelernten Text auch richtig konnte. Inzwischen ist diese mündliche Kultur großenteils durch die Einführung des englischen Schulsystems abgelöst. Ramakrishna ist noch ganz in der mündlichen Kultur aufgewachsen, seine Schüler hatten bereits Schulen nach englischem Muster besucht.
In der abendländischen Geistesgeschichte gibt es mehrere Brüche, bei denen alte Auffassungen verworfen wurden und neue neue Auffassungen angenommen wurden. Bei Einführung des Christentums wurde mit der vorangegangenen Religion gebrochen. Aus der Sicht der Renaissance war das vorhergegangene Zeitalter das dunkle Mittelalter. Die Reformation verwarf mit dem vorangegangenen Katholizismus.
Indien zeigt sich stattdessen als lebendes Museum. Alte Auffassungen und Traditionen bestehen parallel zu moderner Entwicklung.
Eine Mutter liebt alle ihre Kinder
gleichermaßen, aber sie bereitet das Essen für jedes
Kind so zu, wie es dem Kind am besten bekommt. Gleichermaßen
hat Gott verschiedene Wege offenbart, jeweils
für verschiedene Menschen mit unterschiedlichen
Fähigkeiten und in unterschiedlichen Stadien der spirituellen
Entwicklung.