Srî: Glück, Pracht, Herrlichkeit, dies ist der Name der Glücksgöttin. „Srî“ wird traditionell vor den Namen verehrenswürdiger Personen gesetzt. Im heutigen Indien ist dieser Titel Allgemeingut geworden, ähnlich wie unser „Herr“, der ursprünglich auch ein Ehrentitel war.
Shan–kara: der Segen–Wirkende, ein Name des Gottes Shiva. Dies ist der Geburtsname des Philosophen.
Âchârya: geistlicher Lehrer, traditioneller Titel für indische Gottesgelehrte.
Um diesen „geistlichen Lehrer“ Shankara ranken sich zahllose Legenden. Eine erstaunliche Zahl von Büchern, Traktaten und Hymnen wird ihm zugeschrieben. Wenn es allerdings darum geht, etwas gesichertes über sein Leben zu sagen, dann reicht ein kleiner Absatz aus:
Er wurde im Ort Kâladi im heutigen südindischen Bundesstaat Kerala in einer Brahmanenfamilie geboren. Bereits als Kind verließ er Haus und Herd, um ein Sannyâsin zu werden. Die Einweihung in Sannyâsa, den Mönchsstand, erhielt er von Govindapâda, einem Schüler des Gaudapâda. Er schrieb Kommentare zu den Vedânta-Sûtras, den zehn wichtigsten Upanishads und der Bhagavad-Gîtâ. Er führte ein sehr aktives Leben und bereiste ganz Indien. In gelehrten Streitgesprächen brachte er die Advaita-Lehre zur Anerkennung. Er reformierte verschiedene indische Kulte, und in vielen Orten errichtete er Zentren zum Studium und zur Verbreitung der nichtzweiheitlichen Lehre. Im Alter von 32 Jahren starb er und hinterließ vier Hauptschüler, die seine Mission fortführten.
Wann er geboren wurde, wo er seine Gegner traf, wie er sie überzeugte und wo er starb, da widersprechen sich die Überlieferungen. Im 19. Jahrhundert setzte Prof. Max Müller, seinerzeit ein berühmter Indologe mit Lehrstuhl in Oxford, aufgrund von Aufzeichnungen des Sringerî-Klosters Shankaras Lebenszeit bei 788-820 n. Chr. an. Dieses Datum findet man immer noch am Häufigsten erwähnt. Allerdings beschreibt Shankara die Stadt Pâtaliputram (im Vedânta-Sûtra-Kommentar) als bestehende Stadt. Sie wurde aber vor 750 vom Ganges überflutet. Hat Shankara also vorher gelebt? Aufgrund des Vergleichs mit Schriften, die er zitiert, glauben manche Gelehrte, dass er etwa Hundert Jahre früher als von Max Müller angenommen gelebt hat.
Ein Hauptproblem bei seiner Lebensbeschreibung ist, dass Äbte verschiedener Klöster seinen Namen als Titel angenommen haben. Taten und Schriften dieser Äbte wurden ebenfalls als von „Shankarâchârya“ stammend überliefert. Inzwischen ist kaum zu trennen, was der Meister selbst geschrieben und getan hat und was von seinen Nachfolgern stammt — auch wenn man in Indien den Meister inzwischen zwecks deutlicherer Unterscheidung „Âdi“ Shankarâchârya nennt, den „ersten“ Shankarâchârya.
Advaita und Sannyâsins gab es schon lange vor Shankara, er beeinflusste jedoch beides entscheidend. Unter den gegenwärtigen Sannyâsins besteht die Überlieferung, er habe zehn Orden von Sannyâsins gestiftet und in den vier Himmelsrichtungen in Indien Klöster (Matha) gegründet: in Badrînâth im Norden, Dwârakâ im Westen, Sringerî im Süden und Purî im Osten. (Seltsamerweise berichten seine Biographen weder von den zehn Orden noch von den vier Klöstern.) Traditionellerweise tragen Sannyâsins den Ordensnamen als letzten Namensteil, ähnlich wie in der katholischen Ordenstradition. Vergleicht man einen katholischen Mönchsnamen wie „Dom Bede Griffith OSB“ mit einem indischen Mönchsnamen wie „Swâmî Bhâskarânanda Purî“, entspricht dem Titel Dom der indische Titel Swâmî, dem individuellen Namen Bede Griffith der Name Bhâskarânanda, der Ordenszugehörigkeit OSB die Ordenszugehörigkeit Purî. Im Unterschied zur katholischen Tradition besteht die Zuordnung eines Sannyâsins zu seinem Ordenszweig und Matha jedoch nur dem Namen nach. Ein Sannyâsin ist normalerweise nur seinem persönlichen Guru gegenüber zu Gehorsam verpflichtet, sonst ist er frei.
Die Sannyâsins dieser zehn Orden waren die treibende Kraft hinter der Verbreitung des Advaita. Auch von den in heutiger Zeit bekannt gewordenen indischen Lehrern gehören manche einem dieser zehn Orden an, z.B.: Srî Râmakrishna und seine Schüler (Purî-Zweig); Yogânanda Paramahamsa (Giri-Zweig); Swâmî Sivânanda aus Rishikesh und seine Schüler (Sarasvatî-Zweig); Maharishi Mahesh Yogî (Sarasvatî-Zweig).
Von den erhältlichen klassischen Biographien des Meisters ist die bekannteste Shankara-Dig-Vijaya, „Shankaras Sieg in allen Himmelsrichtungen“. Sie stammt von Mâdhava Vidyâranya (1295-1386), einem Gelehrten und Staatsmann am Hofe dreier aufeinander folgender Könige des Vijaya-Nagara-Reichs (Südindien). Mâdhava Vidyâranya gibt in der Einleitung an, dass er diese Biographie schrieb, um sich von seinem unaufrichtigen Lob gegenüber den Königen zu reinigen. Vidyâranya entsagte schließlich auch der Welt, allerdings erst mit 85 Jahren. Er wurde dann Abt des Sringerî-Klosters in Südindien.
Vidyâranyas Shankara-Biographie, etwa 600 Jahre nach den tatsächlichen Vorkommnissen geschrieben, ist alles andere als ein Augenzeugenbericht. Das aus 1840 Versen bestehende Werk liest sich wie eine einzige ausufernde Lobeshymne auf den Meister. Shankara wird als Inkarnation des Gottes Shiva dargestellt. Ständig tauchen Götter und weise Seher der Vorzeit auf, ein Wunder folgt auf das nächste. Aber trotz dieser Mythologisierung vermittelt Vidyâranya ein anschauliches Bild des Meisters. Wenn man die mythologischen Elemente wegdenkt, ergibt sich in etwa folgende Geschichte:
Shankaras Eltern waren ein frommes Brahmanenehepaar. Shankaras Vater, Shivaguru, hatte ursprünglich der Welt entsagen wollen, war aber von seinem Guru zur Heirat überredet worden. Seine Ehe wurde gut, nur Kinder wollten sich nicht einstellen. Um einen Sohn zu bekommen, unterwarf sich das Paar dann asketischen Übungen in Anbetung an Shiva, ihrer erwählten Gottheit. Schließlich erschien die Gottheit dem Shivaguru im Traum und stellte ihn vor die Wahl: Entweder einen allwissenden, tugendreichen aber kurzlebigen Sohn, oder einen langlebigen ohne besondere Tugenden. Shivaguru wählte den kurzlebigen. Kurz darauf wurde seine Frau schwanger. Als schließlich ein Sohn geboren wurde, sahen die Eltern ihn als Shivas Geschenk an. Der Junge erhielt einen Namen dieses Gottes, nämlich Shankara.
Der kleine Shankara zeigte bald die Gaben eines Wunderkindes. Jedoch starb sein Vater, als das Kind erst drei Jahre alt war. Bis zum Alter von sieben Jahren hatte Shankara dann alles gelernt, was ihm die Lehrer der Umgebung beibringen konnten. Der König wollte ihn als Gelehrten an den Königshof holen. Seine Verwandten wollten ihn verheiraten. Der Junge aber äußerte den Wunsch, Sannyâsin zu werden. Seine Mutter war schockiert und begann zu weinen. Damit war das Thema vorerst beendet.
Als er kurze Zeit später ein Bad im Fluss nahm, wurde er von einem Krokodil am Bein gepackt und fortgezogen. Entsetzt sah seine Mutter am Ufer, was passierte. Mit letzter Kraft rief er seine Mutter und bat sie um die Erlaubnis, kurz vor dem offensichtlichen Tod doch noch Sannyâsin zu werden—eine in Indien übliche Praxis, um einen besseren Start für das nächste Leben zu erhalten. Die Mutter willigte ein. Wunderbarerweise ließ das Krokodil dann den Jungen los. Fast unverletzt stieg er wieder aus dem Fluss. Erleichtert umarmte die Mutter ihren Sohn und bat ihn, jetzt schnell nach Hause zu kommen. Shankara jedoch erwiderte, er habe kein Zuhause mehr, er sei jetzt Sannyâsin. Aufs neue entsetzt, flehte ihn seine Mutter an, sie sei doch eine hilflose Witwe, und wenn sie sterben würde, wer würde dann ihr Begräbnis ausrichten. Ihr Sohn antwortete, dass die Verwandten sich sicherlich um ihren Lebensunterhalt kümmern würden. Vor allem aber versprach er ihr, zu ihrer Todesstunde wieder an ihrer Seite zu sein und ihre Kremation den traditionellen Riten entsprechend zu vollziehen.
Dann hielt ihn nichts mehr zurück. Im Dorf erhielt er ein ockerfarbenes Gewand und den traditionellen Asketenwanderstab, dann zog der Kindsannyâsin in die Ferne. Nach langer Suche nach einem Meister gelangte er zu Govindapâda, dem Schüler des berühmten Weisen Gaudapâda. Govindapâda initiierte ihn in den Asketenstand der Paramahamsas, die als höchste Klasse von Entsagern gelten und die die nichtzweiheitliche Lehre vertreten. Der Lehrer erkannte das Potential seines jugendlichen Schülers und sandte ihn bald auf eine „Welt“-Mission, d.h. eine Mission durch ganz Indien. Er sollte überall die reine Philosophie des höchsten Selbstes ohne Zweites vertreten, Andersgläubige überzeugen und mit Kommentaren zu den wichtigsten heiligen Schriften der nichtzweiheitlichen Philosophie eine solide Grundlage geben.
Shankara begann seine Mission in Benares, wo er bereits erste Schüler fand. Verschiedene Legenden sind mit diesem Aufenthalt in Benares verknüpft, z.B. die Geschichte des Parias mit den vier Hunden, der ihm entgegen kommt. Shankara schien zu dieser Zeit den Stolz, ein Brahmane zu sein, noch nicht überwunden zu haben. Er verwies daher den Paria, dem Kastenunterschied entsprechend, an den Straßenrand. Der Paria jedoch fragte ihn, wen er denn meine, den Körper, der sich in seinen Funktionen doch von einem Brahmanenkörper nicht unterscheide, oder den Âtman, der ohne Zweites sei und deshalb schwerlich zur Seite gehen könne. Shankara erkannte seinen Fehler, fiel dem Paria zu Füßen und komponierte extempore eine Hymne, die dieses Ereignis beschreibt.
Von Benares zog er nach Badrînâth, den Ganges stromaufwärts, um dort in der Stille seine berühmten Kommentare zu schreiben. Danach wanderte er weiter, immer in Diskussionen seine Gegner von seiner Philosophie überzeugend und dabei diverse Abenteuer bestehend.
Am bekanntesten ist sein Zusammentreffen mit Mandana Misra, einem berühmten Anhänger des alten vedischen Ritualismus. Als er in dessen Wohnort eintraf und nach seinem Haus fragte, wurde ihm gesagt, es sei ein von einer Mauer umgebenes Anwesen, vor dessen Tor Papageien in Käfigen Sätze wiederholten wie: „Hängen die Veden von einer anderen Autorität ab oder nicht? Braucht Karma für seine Wirkung die Einwirkung Gottes oder nicht? Ist die Welt substanziell oder nur eine Erscheinung?“ Als Shankara das Haus fand, war das Eingangstor allerdings verschlossen. Unbeeindruckt kletterte der Junge einfach über die Mauer! Mandana führte gerade eine vedische Zeremonie durch und war natürlich erbost über den ungebetenen Eindringling. Sein Ärger steigerte sich noch, als er bemerkte, dass es sich um einen kahlgeschorenen Sannyâsin handelte. Ärgerlich rief er: „Wo kommt diese Glatze her?“ Shankara antwortete in Wortspielen: „Vom Haareschneiden ab dem Halse.“ — „Nein, das meinte ich nicht, ich fragte nach dem Weg.“ Wiederum drehte Shankara die Worte um und antwortete etwas Lustiges. Es entspann sich ein Wortgefecht, in dem Mandana zur Weißglut gebracht wurde. Schließlich wurde dieser aber von anderen Anwesenden daran erinnert, dass es die Pflicht eines Familienmenschen sei, Wandermönchen ein Almosen zu geben. Shankara sagte daraufhin, dass er nicht für ein Almosen gekommen sei, sondern für einen gelehrten Disput.
Dieser wurde dann auch für den folgenden Tag anberaumt, wobei festgelegt wurde, dass der Verlierer den Gewinner als seinen Guru akzeptieren müsse. Als Schiedsrichter einigten sich die Kontrahenten auf Mandanas Frau Ubhaya-Bhâratî. Am nächsten Tag kamen viele Menschen, um dem Schauspiel der gelehrten Diskussion mit einem derartigen Einsatz beizuwohnen — laut Vidyâranya versammelten sich auch die Götter in der Luft, um mit dabei zu sein. Die Diskussion sollte mehrere Tage dauern.
Mandana argumentierte im wesentlichen, dass das Leben durch Handlungen vorangetrieben wird. Darum sind Handlungen das wichtigste. Durch rechte Handlungen gelange man in den Himmel. Zwar müsse man nach einiger Zeit wieder zur Erde zurück, aber durch gute Handlungen könne man ja wieder in den Himmel gelangen. Das Ziel der Veden sei es, den Menschen die rechten Handlungen und Rituale zu lehren. Die vedischen Anweisungen zur Meditation dienen dazu, die menschliche Kraft zu erhöhen, um effektiver handeln zu können.
Shankara hielt dagegen, dass Handlungen nicht im Gegensatz zu Unwissen stehen. Man könne endlos aktiv sein und gleichzeitig unwissend und versklavt bleiben. Im Schlussteil der Veden gehe es nicht um Handlungen, sondern um Befreiung. Befreiung sei gleichbedeutend mit unbegrenzter Glückseligkeit. Da aber alle Handlungen begrenzt sind, können sie nur begrenzte Wirkungen haben. Deshalb können Handlungen nicht die Ursache der unbegrenzten Glückseligkeit sein, die die Veden versprechen. Selbst Meditation ist eine mentale Handlung und kann deshalb nicht die Ursache von Befreiung sein. Handlungsempfehlungen wie Meditation usw. sind nur dazu da, um Hindernisse zu beseitigen. Wenn die Hindernisse beseitigt sind, leuchtet die Wahrheit von selbst auf, und die letztendliche Wahrheit ist Befreiung und Glückseligkeit. Dies ist kein Effekt von Handlungen, sondern einfach die Natur der Dinge. Befreiung geschieht, wenn man erkennt, was man immer gewesen ist. Das sei das Ziel der Veden. Es ginge nicht darum etwas zu werden, was man vorher nicht war.
Nach vielen Tagen des Diskutierens gingen Mandana die Argumente aus und alle Anwesenden warteten auf die Entscheidung der Schiedsrichterin. Schließlich erklärte Ubhaya-Bhâratî ihren Mann als den Unterlegenen — jedoch weigerte sie sich, Shankara als Sieger zu erklären. Sie argumentierte, dass Eheleute eine Einheit bilden und Shankara daher erst dann Sieger sei, wenn er auch gegen sie in der Diskussion gewonnen habe. Erst dann sei ihr Mann verpflichtet, ihn als seinen Guru anzuerkennen. Shankara war verblüfft. Zuerst weigerte er sich mit der Begründung, man dürfe nicht mit Frauen kämpfen, und sei es mit Worten. Sie aber konnte mit Beispielen aus den Veden zeigen, dass auch Frauen würdige Diskussionspartner sein können. Als Diskussionsthema wählte sie Kâma-shâstra, die Wissenschaft der geschlechtlichen Liebe zwischen Mann und Frau. Hiermit scheint sie den wortgewaltigen Mönch erst einmal zum Verstummen gebracht zu haben. Als er sich von seinem Schreck erholt hatte, bat er um einen Monat Aufschub, da er sein Unwissen auf diesem Gebiet gestehen musste.
Shankara zog sich mit seinen Schülern auf einen Berg zurück und besprach das Dilemma. Seine Schüler argumentierten, dass es eine große Sünde sei, wenn ein Mönch das Keuschheitgelübde verletze. Shankara jedoch erwiderte, dass das eigentliche Problem der Sexualität das Nachsinnen darüber und der Wunsch nach Sinnesfreude sei. Für jemand völlig unverhafteten komme der Wunsch nach Sinnesfreuden gar nicht auf, und selbst Sexualität habe dann keine schlechten Auswirkungen. Das Problem sei vielmehr ein anderes, nämlich, dass andere, die nicht so weit sind, nachmachten, was er als Sannyâsin tue. Darum sei es ausgeschlossen, dass er dieses Thema am eigenen Leibe erforsche.
Nun war ein König in der Nähe auf Jagd und starb dabei urplötzlich. Shankara kam die Idee, mit seinem feinstofflichen Körper in den toten Königskörper einzudringen, diesen wieder zu beleben und die Wissenschaft der körperlichen Liebe mit dem Königskörper zu erlernen. Gesagt, getan. Der jugendliche Meister ließ seinen eigenen Körper unter Obhut seiner Schüler in einer Höhle zurück und trat mit seinem subtilen Körper in den Königskörper ein. Scheinbar wieder zu sich kommend, begann dann der König sich zu bewegen und stand schließlich langsam auf — zum Erstaunen seiner Begleiter, die ihn schon für tot gehalten hatten. Dann ging es zurück in den Königspalast. Shankara schien sich als König gut einzuleben. Unter Anleitung der 100 Frauen des Königs begann er alles über das gewünschte Thema zu lernen. Mehr noch, er soll sogar einen neuen Kommentar zum Kâma-Sûtram des Vâtsyâyana verfasst haben. Das Problem war nur, dass er nach einem Monat nicht in seinen eigenen Körper zurückkehrte. Seine Schüler kamen schließlich als Musiker verkleidet zum Hof des Königs und sangen die Ballade vom Leben des Shankarâchârya. Dadurch wurde der Meister sich seiner selbst wieder bewusst. Er beschenkte die Musiker reich, und als diese gegangen waren, fiel der König mitten in der Versammlung tot um. Shankaras Geist hatte den Königskörper verlassen und kehrte zu seinem eigenen Körper zurück. Seine Schüler waren freudig erleichtert und schließlich machte sich die ganze Gruppe wieder zu Mandanas Haus auf.
In Vidyâranyas Beschreibung verzichtete nun Ubhaya-Bhâratî auf den Disput und eröffnete den Anwesenden, dass sie tatsächlich die Göttin der Weisheit sei, die aufgrund eines Fluchs auf der Erde geboren werden musste. Durch das Treffen mit Shankara sei der Fluch vorbei. Vor aller Augen fuhr sie dann in den Himmel.
Nach einer von Vidyâranya abweichenden Überlieferung fand der Disput hingegen statt, nur soll Shankara der Schicklichkeit halber alle Antworten schriftlich gegeben haben. Jedenfalls akzeptiert ihn Mandana als Guru. Unter dem Namen Suresvara soll Mandana einer der vier Hauptschüler des Meisters geworden sein.
Danach zog Shankara mit seinen Schülern weiter durch Indien, in Diskussionen Vertreter verschiedenster Richtungen, von Buddhisten bis zu Atheisten, besiegend. Die Zahl seiner Schüler wuchs, und bisweilen musste er Eifersüchteleien schlichten.
Er schaffte es sogar, wie versprochen bei seiner Mutter zu sein, als deren Todesstunde gekommen war. Da war er aber wohl alleine. Um ihre standesgemäße Kremation auszuführen, sah er sich gezwungen, die anderen Brahmanen im Dorf um Hilfe zu bitten. Diese wiesen ihn zurück. Nach der herrschenden Auffassung war Shankara als Sannyâsin nicht berechtigt, familiären Riten durchzuführen. Mit seinem Entsagungsgelübde hatte er sich außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft gestellt. Wenn er jetzt etwas Bürgerliches, wie die Totenfeier seiner Mutter, ausrichten würde, wäre das ein Zurückkehren in den bürgerlichen Stand. Das wurde von den Brahmanen am Ort nicht akzeptiert. Auch den Zugang zum Platz, an dem die Toten kremiert werden, verwehrten sie ihm. Ohne fremde Hilfe verbrannte deshalb Shankara den Körper seiner Mutter auf dem eigenen Grundstück. Laut Vidyâranya verfluchte er dabei die Brahmanen der Umgebung, dass sie hinfort ihre Toten immer auf dem eigenen Grundstück kremieren müssen. Wie mir indische Bekannte mitteilten, kremieren die Brahmanen dieser Gegend tatsächlich immer noch ihre Toten auf dem eigenen Grundstück — ganz entgegen der Gepflogenheit von Brahmanen anderswo.
Nach dieser kleinen Unterbrechung ging Shankaras Siegeszug zur Wiederherstellung religiöser Ideale mit Advaita als Krone unverändert weiter. Ein kleineres Problem hatte er dann noch mit einem gewissen Navagupta, einem leitenden Denker der Shâkta-Schule (wahrscheinlich ein Tantriker). navagupta war im Wortgefecht besiegt worden und befürchtete nun, dass Shankara mit seiner Überzeugungskraft die ganze Shâkta-Schule zum Verschwinden bringen würde. Um das zu verhindern, wollte er den Meister mittels schwarzer Magie töten. Nach einiger Zeit begann sich an Shankaras Körper tatsächlich ein bedrohliches Geschwür zu entwickeln. Seine Schüler holten die besten Ärzte, doch deren Kunst blieb vergeblich. Shankara scheint seiner Krankheit gegenüber gelassen regiert zu haben. Schließlich heilte ihn aber einer seiner Schüler durch ein Mantra, das die schwarze Magie zu seinem Urheber zurück sandte. Daraufhin starb Navagupta dann selbst an einem Geschwür.
Shankara beendete seine irdische Existenz laut Vidyâranya in Kedarnâth im Himâlaya, einem Shiva gewidmeten heiligen Ort. Andere Traditionen geben andere Orte an. Nur 32 Jahre alt geworden, hat er dennoch die geistige Landschaft Indiens umgekrempelt.
Große Seelen, tief berührt vom Leid anderer, zeigen den Menschen den Weg zu Gott. Shankarâchârya hielt in sich das „Ego der Gelehrsamkeit“ aufrecht, um die Menschen zu lehren.